Vor vier Jahren ist Nick Drnasos Graphic Novel „Sabrina“ erschienen, eine Geschichte um eine Frau, die verschwindet und was das alles für Folgen nach sich zieht. Drnaso zeichnet darin ein komplexes Panoptikum der amerikanischen Gesellschaft, angenagt von emotionalen Krisen und Ängsten, die immer wieder durch dramatische oder dramatisierte Ereignisse gefüttert werden.
Drnasos neuer Comic steht „Sabrina“ an Komplexität und Anhäufung verlorener Seelen in nichts nach: „Acting Class“ begleitet einen Schauspielkurs für Amateure und seine Teilnehmer:innen. Sie alle haben ihr Päcklein zu tragen und erhoffen sich vielleicht von dem Kurs ein wenig Abstand von der Wirklichkeit, dem Ist-Zustand, und vielleicht auch etwas mehr Einblick in den Ich-Zustand. Der leicht dubiose Kursleiter John feiert hingegen vor allem den Als-ob-Zustand: Zunächst entfaltet die Gruppe recht gewöhnliche Einzel- und Gruppenimprovisationen mit den üblichen Aha-Effekten beim Spielen. Nach und nach entstehen dabei jedoch Irritationen und Realität und Spiel verschwimmen. Drnasos Erzählung wirkt über Strecken fast dokumentarisch. Er beobachtet die Proben, die Gespräche. Doch schon bald treibt er das Verwirrspiel der Ebenen auch visuell an, wenn man die Kursteilnehmer:innen nicht nur in der Halle spielen sieht, sondern sich auch die Räume magisch verändern. Bei aller Nüchternheit der Zeichnungen entfaltet sich zunehmend ein Spiel der Bewusstseinsebenen, das mitunter an David Lynch erinnert und zunehmend die inneren Abgründe, aber auch verschütteten Potentiale der Protagonist:innen freilegt (Blumenbar).
Eva Müller bleibt abgesehen von einer bösen Schlange in der Wiklichkeit – ihrer Wirklichkeit. „Scheiblettenkind“ ist als Autofiktion ihrer eigene Kindheit und Jugend angelegt, die geprägt war vom Klassismus: hier die Freund:innen mit Geld, dort ihr Arbeiterhintergrund und latente Armut, aus der sie sich langsam mit ihrem kreativen Talent, dass in ihrer Familie wiederum nichts bedeutet, befreit. In einfachen Bleistiftzeichnungen entführt uns Müller in eine schwere, traumatisierende Biografie, die sie auch als Künstlerin prägt (Suhrkamp).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Alltag und Irrsinn
Comics von tragikomisch bis irre komisch – ComicKultur 02/23
Super Comicheld:innen
In anderen Ländern, anderen Körpern und anderen Sphären – ComicKultur 12/22
Arbeit und Verschwörung
Alltag zwischen Beruf, Berufung und Wahn – ComicKultur 10/22
Adaptionen und Biografien
Film und Comic im engen Verwandtschaftsverhältnis – Comickultur 09/22
Gesellschaftscomic
In wilden Bildwelten quer durch die Bevölkerung – Comickultur 08/22
Für die Vernunft
Kampf für Arbeitsrechte und gegen Tyrannen – Comickultur 04/22
Lernen aus der Geschichte
Zwei Comics widmen sich jüdischen Themen – Comickultur 07/21
„Asexuell kann ich nicht“
Comic-Zeichner Ralf König über Konrad & Paul und Lucky Luke – Interview 03/21
Schattenseiten des Ruhms
Exzessive Künstlerleben, Umweltstars und Raubbau aller Orte – ComicKultur 08/20
Vogelperspektive
Comiclegenden, Teenager und Astronauten aus großer Entfernung – ComicKultur 07/20
Dunkle Zeiten
Von griechischer Mythologie zur dystopischen Science Fiction – ComicKultur 03/20
Die Verdammten dieser Erde
Misanthropen, Asoziale und neurotische Superhelden – ComicKultur 02/20
Stürmische Liaison
„Der junge Mann“ von Annie Ernaux – Klartext 02/23
Geborgenheit trotz Trennung
„Zicke zacke Trennungskacke – und wie du da durchkommst“ von Ilona Einwohlt – Vorlesung 02/23
Poetische Traumlandschaften
„Nachts im Traum“ von Sonja Danowski – Vorlesung 01/23
Stimme für die Frauen im Iran
Faribā Vafī im Literaturhaus Köln — Lesung 01/23
Ursprungswelten
„Wie alles begann – Die wunderbare Geschichte unserer Erde“ von Aina Bestard – Vorlesung 01/23
Die Bosheit der braven Bürger
Pater Brown exzellent in neuer Robe präsentiert – Textwelten 01/23
Licht im Dunkeln
„Als der Krieg nach Rondo kam“ von Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw – Vorlesung 12/22
30 Jahre Regenbogenfisch
Marcus Pfisters „Der Regenbogenfisch glaubt nicht alles“ – Vorlesung 12/22
Freundliche Melancholie
Ein neuer Verlag und ein Klassiker weiblicher Literatur – Textwelten 12/22
Die Lebensbilanz
„Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek – Klartext 12/22
Freunde für immer
„Wie der kleine rosa Elefant…“ von Monika Weitze – Vorlesung 11/22