Mit „Im Schatten junger Mädchenblüte“ wird Stéphane Heuets Adaption von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fortgesetzt. Nach den Kindheitserinnerungen in „Combray“ macht der nun adoleszente Protagonist erste Erfahrungen mit der Oberschicht und deren so faszinierenden wie hohlen Spielregeln. Zugleich entdeckt er sein Interesse für das andere Geschlecht. Heuets akribischer Ligne Claire-Stil ist nicht nur sehr schön anzusehen, der Zeichner schafft es auch vortrefflich, die entrückte und sentimentale Stimmung des Protagonisten einzufangen, Erinnerungsfetzen und Assoziationen subtil anzudeuten. Ein Genuss, der alleine durch seine starke Verkürzung vielen Lesern eine Ahnung von der umfangreichen Vorlage vermittelt (Knesebeck). Langsam aber stetig wächst die Will Eisner-Bibliothek von Carlsen. Der zweite von drei Bänden widmet sich unter dem Titel „New York“ den
Großstadtgeschichten des bedeutenden Comic-Künstlers. Nach dem ersten Band „Ein Vertrag mit Gott“, der religiöse und im Speziellen jüdische Themen versammelte, werden nun die Geschichten „Big City Blues“, „The Building“, „City People Notebook“ und Unsichtbare Menschen“ des Pioniers der Graphic Novel zusammengefasst. Alle Geschichten zeichnen sich durch episodenhaftes Erzählen aus, so dass das Kriterium einer Graphic Novel nicht unbedingt erfüllt wird. Neben solchen formellen Aspekten sticht vor allem Eisners genauer Blick auf die urbane Soziologie und natürlich sein dynamischer Strich hervor. Einen ganz eigenen Blick auf die Historie liefert Nick Abadzis. Anhand des ersten Lebewesens im All – der Hündin „Laika“ – gibt Abadzis einen tiefen Einblick in die Sowjetunion des Kalten Krieges. Raffiniert reflektiert der Autor die unterschiedlichsten Machtgefüge innerhalb des Staates (Atrium).
Die „Noir“-Reihe von Schreiber & Leser schreitet zügig voran. „Die Straße nach Selma“ ist eine Wiederveröffentlichung der 1995 bei Carlsen erschienenen Geschichte „Zufällige Nähe“ von Tome und Philippe Berthet. Die Story vereint klassischen Noir-Stoff mit einer Rassismus-Thematik à la „In der Hitze der Nacht“, der Zeichenstil ist realistisch. Das Format ist zwar kleiner, aber der Band ist schöner aufgemacht als die deutsche Erstveröffentlichung. Im Anhang findet sich außerdem ein aktuelles Interview mit den beiden Künstlern. „Swinging London“ von Thomas Bénet und Christian De Metter ist visuell spektakulärer. Metter hat bereits „Shutter Island“ von Dennis Lehane adaptiert. Nun widmet er sich einer Story, die in okkultistischen Kreisen der Londoner Musikszene der 1960er Jahre angesiedelt ist und zahlreichen Berühmtheiten wie Lennon, Jagger, Hendrix oder Burroughs einen Cameo-Auftritt verschafft.
Wie mag wohl die letzte Nacht von Country-Ikone Hank Williams ausgesehen haben? „Hank Williams – Lost Highway“ erzählt in kantigen Zeichnungen vom absehbaren Ende des schwierigen Musikers, der in der Sylvesternacht 1952 volltrunken im Fond eines Cadillac hängt, während seinem Fahrer die Geister von Williams' Wegbegleitern erscheinen. Eine surreale Annäherung an eine Musiker-Legende (Edition Moderne). Nicolas Mahler widmet sich in seinem neuen Band „Was fehlt uns denn – Cartoons für Ärzte und Patienten“ den klassischen Doktor-Witzen und blickt in die Abgründe der Heillandschaft. Zwar findet man hier schön schwarzhumorige Cartoons, aber oft läuft die Pointe zwischen Wortwitz und Ekel etwas ins Leere (Edition Moderne).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24
Kunst leben, Kunst töten
(Auto-)Biografische Comics bleiben ein großer Trend – ComicKultur 08/24
Repetitive Einsamkeit
Comics aus der (inneren) Isolation – ComicKultur 07/24
Allzu menschlicher Sternenkrieg
Annäherungen an Philosoph:innen und Filmemacher:innen – ComicKultur 06/24
Von Kant bis in die Unterwelt
Zarte und harte Comicgeschichten – ComicKultur 05/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Held:innen ohne Superkraft
Comics gegen Diktatur und Ungerechtigkeit – ComicKultur 01/24
Ernste Töne
Neue Comics von Sfar, Yelin und Paillard – ComicKultur 12/23
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24