Das 2. Comicfestival lud am 10. und 11. Februar zum Schauen, Hören und Austauschen ins Literaturhaus am Großen Griechenmarkt. Wie auf einem fulminanten Trip der Figuren, Formen und Farben sollte sich der Besucher fühlen. Von historischen Entwicklungen bis hin zur Gegenwart der Comic-Szene.
Am Freitag moderierte Andreas Platthaus, Literaturchef und Comic-Experte der F.A.Z., einen Abend mit dem Titel „Leben erleben“ mit Hamed Eshrat und Judith Vanistendael. Vanistendael las mit ihrem charmanten belgischen Akzent aus dem Leben von „Mikel. Die Geschichte eines Bonbonverkäufers, der sich im Regen auflöste“ (Reprodukt). Der Comic von ihr und Mark Bellido erzählt von „einem Idealisten, in dessen Leben die rohe Gewalt einbricht“. Mikel führt mit seiner kleinen Familie ein entspanntes und sicheres Leben in einem kleinen andalusischen Dorf. Doch träumt er davon Schriftsteller zu werden und beschließt Leibwächter eines baskischen Politikers zu werden, den es vor Anschlägen der ETA zu schützen gilt. Denn so steht für Mikel fest: Wer etwas schreiben will, der muss auch etwas erleben.
Zum Einstieg in ihre erste Szene bittet Judith Vanistendael das Publikum „Regensound“ durch das sanfte Schnipsen und Reiben der Finger zu generieren. Das Prasseln klingt überzeugend. „Ich hänge am Leben“, sagt Mikel, der mit seiner neuen Kollegin an einem verregneten Abend die scheinbar endlosen Stunden der Observation in einem Auto absitzen muss. Sie, eine toughe Braut mit Kurzhaarschnitt und Lippenstift, muss dem Neuling schnellstmöglich beibringen wie ein Terrorist zu denken.
Danach übernimmt der aus dem Iran stammende Hamed Eshrat den Abend. „Venustransit“ (avant-Verlag) lautet der Titel seines Comic-Debuts. In kraftvollen Schwarz-weiß-Bildern eröffnet er uns die Welt des in Berlin lebenden Ben Rama, welcher um die dreißig Jahre alt ist und sein Dasein als Programmierer fristet. Doch schlägt sein kreatives Herz eigentlich für die Zeichnerei, welcher er nicht mehr so richtig nachkommt. Aufgrund seiner chronisch miesen Laune verliert er dann auch noch seine große Liebe und löst sich zunehmend in einer Sinnkrise auf. In den Szenen des Berliner Stadtlebens findet man vertraute Lebens-Momente. Diskussionen um den Sinngehalt von Bio-Chips, ein unangenehmes lautes Schweigen bei einer Taxifahrt, das gute Gefühl, dass dir der Kiosk deines Vertrauens vermittelt, und Aussagen wie: „Wir wollen doch alle nur geliebt werden.“
Der Versuch die zerbrochene Beziehung zu seiner Freundin und die unklare Beziehung zu sich selber zu meistern, werden mit authentisch-skurrilen Szenen gemischt. So formuliert er für sich: „Eine Beziehung ist wie ein dreibeiniger Hocker. Kommunikation, Vertrauen und Respekt sind die Pfeiler.“ Doch wenn auch diese Formel nicht hilft, so ist es vielleicht die Wochenend-Betäubung im Club. Denn „Gegen Liebeskummer hilft nur bumsen!“, so wird Ben von seinem Kumpel geraten. Bei seiner Flucht aus der Realität steuert er den Berliner Szeneclub Berghain an und schraubt sich dort an der Garderobe – na logisch – den Kopf ab. Die Graphic Novel über Liebe, Verlust und Selbstfindung wird von Andreas Platthaus als erzählerisch höchst subtil gelobt und mit Nick Hornbys „High Fidelity“ verglichen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Held:innen ohne Superkraft
Comics gegen Diktatur und Ungerechtigkeit – ComicKultur 01/24
Ernste Töne
Neue Comics von Sfar, Yelin und Paillard – ComicKultur 12/23
Ausstellung in Buchformat
Wenn jedes einzelne Panel im Comic einem Kunstwerk gleicht – ComicKultur 11/23
Klaustrophobische Comics
Eingerahmter Existentialismus zwischen Leben und Tod – ComicKultur 09/23
Zwiespältige Helden
Geschichten aus anderen Zeiten – ComicKultur 08/23
Große Werke bei kleinen Verlagen
Comics sind nach wie vor ein Risikogeschäft – ComicKultur 07/23
Rotes Blut, roter Staub
Graphic Novels mit cineastischen Bezügen – ComicKultur 06/23
Quietschbunte Gewalt
Von starken Frauen und korrupten Männern – ComicKultur 05/23
Besser spät als nie
Abschlussbände von Comicreihen endlich erschienen – ComicKultur 04/23
Comic, Film, Comic-Film?
Von Comics, Graphic Novels und Animationsfilmen – ComicKultur 03/23
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Erwachsen werden
„Paare“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24
Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24
Umgang mit Krebserkrankungen
„Wie ist das mit dem Krebs?“ von Sarah Herlofsen und Dagmar Geisler – Vorlesung 01/24