„Also, wenn ich sterben würde …“, sagte sie. „[…] Wir haben Großes von dir erwartet, und dann hast du dich auf diese albernen Filmsachen eingelassen. Hast du denn jetzt keine großen Gedanken?“ – „Nur große und sehr kleine. Die mittelgroßen sind die ersten, die bei einer Katastrophe in die Boote steigen.“
Was ne ätzende Situation, in der sich der überaus erfolgreiche Drehbuchautor Charlie Fairburn plötzlich befindet. Ein Leben lang lässt es sich wunderbar über die eigene Endlichkeit philosophieren (und/oder diese verdrängen), doch im unmittelbaren Angesicht des Todes steht plötzlich der ganze Lebensentwurf unter umgekehrten Vorzeichen. Da legt sich bisweilen selbst ein ausgemachter Nihilist wie Strindberg mit dem letzten Atemzug die Bibel auf die Brust. Für Edward St. Aubyns Protagonisten stellt sich die Situation jedoch ein wenig anders dar. Die Botschaft, dass ihm nur noch sechs Monate bleiben, lässt ihn zur scharfen Feder greifen: Nicht der „Ausweg“ (Piper) aus der irdischen Krankheit zum Tode steht im Mittelpunkt, sondern der aus dem Leben. Doch um Frieden mit sich selbst zu schließen, muss man erst mal gegen sich und die gelebte Mittelmäßigkeit in den Krieg ziehen. / Ein zweischneidiges Schwert, das einem aus der eigenen Jugend nicht unbekannt ist. Mit welch romantisch verklärter Verve, welch narzisstischem Geltungsdrang haben wir uns gegen die biederen Abgeschmacktheiten und belanglosen Halbherzigkeiten gestemmt. Bis wir uns die Hörner abgestoßen hatten – oder uns in unbeugsamer Selbstgerechtigkeit in einer ausgemachten bipolaren Depression wälzten. Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Zwischen triumphaler Selbstverherrlichung und der betretenen Erkenntnis der eigenen Mangelhaftigkeit. Ebenso unerbittlich wie St. Aubyn, nur nicht so garstig-amüsant, dafür dräuend-düster lässt M. Agejew alias Mark Levi seinen Gymnasiasten/Studenten Wadim Maslennikow mit sich selbst ins Gericht gehen. In obsessiver Selbstreflexion seziert er den „Roman mit Kokain“ (Manesse) seiner Jugend im vorrevolutionären Moskau; wuchtig-voluminös und abgrundtief. / Weit zartbesaiteter geht es da in Katherine Mansfields Erzählungen zu. Doch Obacht: Ihre ach-so-idyllischen Miniaturen befinden sich in einem akuten Kippzustand. Mag in der Titelstory „Rosabels Tagtraum“ (Manesse) auch von Anfang an klar sein, dass das Trugschloss auf Treibsand gebaut ist, so erweisen sich die Niederschläge in den weiteren Momentaufnahmen als umso schmerzlicher. Nicht ist flüchtiger als der grandiose, Endorphine freisetzende Moment, nach dem doch alle Welt strebt. Einzige Genugtuung, die uns Sozialromantikern bei Mansfield bleibt: Fortuna hat es immer eilig, lässt sich nicht kaufen. / Weder von der Upper Class im London zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch hundert Jahre später in der „Stadt der Clowns“ (Wagenbach). Auch Pedro Alarcóns Geschichten aus der peruanischen Hauptstadt Lima schicken Protagonisten wie Leser durch ein kontinuierliches Wechselbad der Gefühle aus Verzweiflung und Hoffnung – allerdings mit dem großen Unterschied, dass sich in jedem einzelnen Schicksal zugleich der nackte Kampf ums Überleben spiegelt. Privates Drama und politische Tragödie scheinen deckungsgleich. Nichts ist sicher.
Mögen sich „Los Miles“ auch ihr eigenes Terrain erobert haben, sie werden doch so zahllos wie namenlos bleiben. / Ein trauriges Wissen, dass uns doch nicht davor feit, dass es uns eines Tages wie in Stanislaw Lems zotiger Sci-Fi-Satire „Professor A. Donda“ (Insel) um die Ohren fliegt. Die Grenze des Wissenszuwachses, die kritische Masse der Informationen ist erreicht, während unser revolutionärer Geist noch in der Ferne schweift. „Jede Zivilisation, die das nicht vorausahnt, läuft bald selbst in die Falle. Je mehr sie erfährt, desto mehr nähert sie sich der Ignoranz.“ Und dann macht es Peng. Vor der eigenen Haustür. Im Großen wie im Kleinen. Der Big Bang läuft rückwärts ab. Von Unendlich bis Null. Aber das fällt immer erst auf, kurz bevor die Stunde geschlagen hat.
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