Sobald sich Raoul Schrott mit einem Gegenstand beschäftigt, beginnt sich dieser mit funkelndem Interesse aufzuladen. So hat uns der 48-jährige gebürtige Tiroler für entfernte Eilande im südlichen Atlantik ebenso begeistert wie für das Gilgamesch-Epos, den Streit um Troja, oder die Beziehungen zwischen Literatur und Gehirnforschung. Jetzt lud ihn Insa Wilke – die Programmleiterin des Literaturhaus Köln – dazu ein, über sein neues Buch „Das schweigende Kind“ zu berichten und so die Reihe mit erotischen Themen zu eröffnen, die sich durch das kommende Jahresprogramm des Literaturhauses ziehen wird.
Für „Die Nacht der erotischen Literatur“ spricht Schrott in der Kulturkirche über die Literatur der Antike. „Erotische Texte der Sumerer und Ägypter gehören zu den frühesten Texten, die überliefert wurden“, erklärt er und schwärmt von den üppigen Metaphern, mit denen die geschlechtlichen Attribute von Männern und Frauen gefeiert wurden. Da beschwört man Ackerfurchen, blitzende Harnische, den Salat und überhaupt alles, was auf freudige und bewundernde Weise zum Leben des Alltags gehörte. Schrott spricht von seinem Erstaunen über eine Welt, in der Sexualität, Gesellschaft und Religion noch als Einheit existierten. „Die Göttin Ischtar war die Göttin der Liebe und des Krieges. Eine potente Rolle, die eine frauenfeindliche Gesellschaft wie die der Griechen nicht aushalten konnte. Deshalb spaltete man sie in drei Göttinnen auf.“ Die jüdische und die christliche Religion führten die Spaltung fort, trennten Sex und Gesellschaft. „Aber zunächst gab es dieses Spannungsfeld, das auch die Scham hervor brachte, noch nicht. Beischlaf, Lust, Ehe und Fruchtbarkeit gehörten auf eine fast unschuldige Weise zusammen“, erklärt Schrott. Jenes Konfliktpotential, aus dem die Literatur zum Beispiel in der Geschichte von Romeo und Julia ihre Sujets bezieht, entwickelte sich erst mit dem Heraufziehen des Abendlandes. Wobei Schrott lachend sagt, „wenn es sich mit den elterlichen Moralvorstellungen nicht vereinbaren ließ, dass sich das Liebespaar im Haus aufhielt, dann ging man eben in den Garten und hatte über sich die Götter“, die dann schon ihren Segen zur Liebe gaben. Und Schrott erinnert daran, dass „die Emanzipation eben keineswegs eine Erfindung der Neuzeit war“.
In seinem neuen Roman lotet Schrott zwar sexuelle Grenzbereiche aus, aber sein Thema ist ein anderes. Die rechtlosen Väter, denen nach der Trennung die Kinder vorenthalten werden, haben ihn nicht nur beschäftigt, sondern ihr Schicksal erzürnt ihn auch, sobald ihr Dilemma im Gespräch angeschnitten wird. „Das schweigende Kind“ erzählt von einem Vater, der seiner Tochter den Tod der Mutter beschreibt. Ein Buch, das wie ein Kriminalroman aufgebaut ist. „Wie kommt Schuld in die Welt, obwohl man sich unschuldig fühlt? Das hat mich psychologisch interessiert“, bekennt Schrott. Das Leid der Väter, die ihre Kinder nicht sehen dürfen, ist Schrott – selbst Vater zweier Töchter – unter die Haut gegangen. „Ein Freund hat mir einmal von jenem Rollenwechsel erzählt, der sich mit einer Vaterschaft einstellt“, erzählt er, „zunächst hat man sich darauf eingelassen, Vater zu werden, und dann darf man nicht mehr Vater sein. Während die Mutter dem Kind sagt, du bist mein Kind.“ So wird die Erzählung zur Geschichte eines Sündenfalls. Alle meinen, das Richtige zu tun, während das Kind – als Zeuge des Unglücks – nicht mehr sprechen will. Ein Buch, mit dem sich Raoul Schrott in das Zentrum einer erregten Diskussion begibt. Aber: Wo sich Schrott aufhält, da gibt es etwas zu erleben. Der Abend in der Kulturkirche verspricht spannend zu werden.
„Die Nacht der erotischen Literatur“, Lesungen von Raoul Schrott und Maria Schrader | 13.2., 20 Uhr | Kulturkirche Siebachstraße, Köln
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