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Wallraff, Moderator Okkan, Dündar, Görgen, Akhanlı und per Skype die Schriftstellerin Aslı Erdoğan
Foto: Seyda Kurt

Absurditäten, die Solidarität verlangen

10. März 2017

Deutsch-türkische Solidaritätsveranstaltung zur „Freiheit des Wortes“ auf der lit.Cologne – Spezial 03/17

„Die Freiheit des Wortes ist ein hohes Gut, für das man in der Türkei Kopf und Kragen riskieren muss.“ So eröffnet Moderator Osman Okkan eine der Eröffnungsveranstaltungen der lit.Cologne, die verfolgten SchriftstellerInnen in und aus der Türkei gewidmet ist. Das hohe Sicherheitsrisiko ist mehrmals Thema an diesem Abend. Personenkontrollen lassen die BesucherInnen vor dem Eingang zum WDR Funkhaus in langen Schlangen warten. Stellen Sie sich vor: Sie besuchen eine Literatur(!)-Veranstaltung, und da hält ein Leibwächter auf der Bühne Sie den ganzen Abend lang unter Beobachtung. Als würden Sie im nächsten Moment eine Knarre ziehen und abdrücken. Klingt absurd, ja. Aber: Auf der Bühne sitzt unter anderem Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der größten türkischen Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, verurteilt zu einer Haftstrafe von beinahe sechs Jahren. Auf Dündar wurde in der Türkei am hellichten Tag auf offener Straße geschossen. So wird in dieser Zeit in manchen Gesellschaften mit KritikerInnen umgegangen. In Deutschland steht Dündar unter ständigem Schutz. Und da soll noch jemand sagen, die türkische Politik sei nicht unsere innenpolitische Angelegenheit.

Während sich die Große Koalition in der Causa Türkei weiterhin in Wegducken übt, verwechselt ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Gesellschaft den Begriff „Solidarität“ mit einer offenen Austragung von Ressentiments gegen „den Türken“. Am Ende geht es wieder oft nur um nationalistische Befindlichkeiten beider Seiten. Natürlich könnte man nun in aller Länge auf die Spannungen zwischen beiden Ländern eingehen, doch dann würde man wieder nur jenen eine Öffentlichkeit bieten, die von Polarisierung und Konflikt leben. Also lassen Sie uns lieber von jenen sprechen, die die eigentlichen ProtagonistInnen des Abends sein sollten und auch waren: die mehr als 150 SchriftstellerInnen und JournalistInnen in den türkischen Gefängnissen – eine allzu lange Liste. Und vor allem eine lange Liste der Absurditäten. Hier einige Beispiele:

Der Fall Aslı Erdoğan:
Per Skype-Konferenz wird an diesem Abend Aslı Erdoğan aus Istanbul zugeschaltet. Eine der wichtigsten AutorInnen der türkischen Gegenwartsliteratur, ausgezeichnet mit den bedeutendsten Literaturpreisen im In- und Ausland, die beinahe jährlich einen Roman veröffentlicht, sagt: „Mein Seelenzustand und die Zustände der Türkei erlauben es mir nicht zu schreiben.“ Aslı Erdoğan ist verstummt. Nach 132 Tagen Haft irreparabel verletzt, wie sie es nennt. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Was Aslı tatsächlich tat: schreiben. Sie war außerdem symbolisches Mitglied der Beratungskommission der prokurdischen Tageszeitung „Özgür Gündem“. Mehr als 50 MitarbeiterInnen wurden seit der Gründung der Zeitung im Jahre 1992 ermordet. Vom türkischen Staat, wie die HerausgeberInnen sagen. Aus der Untersuchungshaft wurde Aslı Erdoğan aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes entlassen: Sie leidet an Asthma und Diabetes. Die Staatsanwaltschaft fordert indes lebenslange Haft. Diese zerbrechliche Frau, die vorsichtig und gewählt spricht, stets mit nachdenklicher Skepsis in den Augen, soll eine Terroristin sein.


Nur einige der inhaftierten AutorInnen und PolitikerInnen in der Türkei, Foto: Seyda Kurt

Der Fall Can Dündar:
Das Gefängnis wurde zum gemeinsamen Schicksal von Aslı Erdoğan und Can Dündar. Als er aus der Haft freikam, wurde sie eingesperrt. Mehrmals betonte Präsident Erdoğan, dass diejenigen, die bei dem Referendum mit „Nein“ stimmen werden, sich auf die Seite der Terroristen im Lande schlagen würden. Denn am 16. April wird die türkische Bevölkerung über eine Verfassungsänderung abstimmen, die Erdoğans Macht erheblich ausbauen wird: mit der Abschaffung des parlamentarischen Misstrauensvotums bis hin zur alleinigen Wahl der Universitätsrektoren. „Gibt es ein anders Land auf der Welt, in dem mehr als 40 Millionen Terroristen leben?“, wendet Dündar sich ans Publikum. Immerhin gibt es zwei ähnlich starke Lager von BefürworterInnen und GegnerInnen der Verfassungsänderung. „Entweder benutzt man hier eine falsche Definition von Terrorismus, oder es ist ein Mittel der politischen Machtausübung“, so Dündar.

Im Mai 2015 berichtete die größte Oppositionszeitung der Türkei „Cumhuriyet“, deren Chefredakteur er damals war, von Munitionslieferungen des türkischen Geheimdienstes per Lkw an islamistische Milizen in Syrien. Ein Bericht mit profunden Beweismitteln, die die Aussagen des Präsidenten, solche Lieferungen habe es nie gegeben, widerlegten. Daraufhin stellte Erdoğan höchstpersönlich Strafanzeige gegen Dündar. Der Journalist werde „einen hohen Preis“ für seinen Bericht zahlen, verkündete er. Der Vorwurf an Dündar war jedoch nicht der einer falschen Behauptung, sondern der Spionage, Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen und – oh Wunder – Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation.

Dass Dündar heute als einer der größten Volksverräter seines Landes gilt, obwohl die Regierung mit dem Vorwurf der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen sinngemäß ein Schuldgeständnis machte, ist das Ergebnis eines politischen Klimas, das sich aus blinder und fanatischer Folgsamkeit nährt. In der türkischen Gesellschaft, in der politische Wahrheiten längst hinter einem ideologischen Personenkult stehen, macht sich nicht der Machthaber schuldig, der das Verbrechen begeht, sondern derjenige, der es anprangert. Dündar hat seine Aufzeichnungen aus dem Gefängnis als Buch veröffentlicht. In einer seiner Kolumnen verglich er sich mit WhistleblowerInnen wie Snowden, Manning und dem Journalisten Glenn Greenwald. Auf der Bühne sitzt übrigens an diesem Abend als einer der Referenten Andreas Görgen vom Auswärtigen Amt. Es ist auch die mitregierende SPD, die sich in der großen Koalition stets gegen die Einreise von Edward Snowden nach Deutschland ausgesprochen hat.

Der Fall Doğan Akhanlı:
Doch die Geschichte, die der in Köln lebende türkische Literat Doğan Akhanlı an diesem Abend auf der Bühne erzählt, ist an Bizarrheit kaum zu überbieten. Im August 2010 wurde Akhanlı bei der Einreise in die Türkei festgenommenund verbrachte wegen angeblicher Teilnahme an einem 1989 geschehenen Raubüberfall mehrere Monate in Untersuchungshaft. 2011 wurde er wegen mangelnder Beweise freigesprochen. Der Staatsanwalt hingegen ging in Revision: Auch wenn alle Beweise für den Angeklagten sprächen, bedeute dies nicht, dass dieser unschuldig sei. 2013 wurde daraufhin der Freispruch aufgehoben und ein internationaler Haftbefehl erlassen. Der besagte Staatsanwalt hingegen sei nach dem Zerwürfnis zwischen den ehemaligen Verbündeten Erdoğan und dem konservativen islamischen Prediger Fethullah Gülen, dessen Anhänger jahrzehntelang ungehindert Justiz, Öffentlichkeit und Bildungswesen unterwanderten, selbst ins Visier der Justiz geraten, so Akhanlı. Die Anklage habe außerdem auf demselben Paragraphen gefußt, wie damals die Anklage gegen ihn selbst. Der Staatsanwalt floh. Einen Asylantrag in Deutschland habe er gestellt und sei seitdem untergetaucht. Das wäre wahrliche ein sehr interessantes Wiedersehen.

Und nicht zuletzt ist da natürlich Deniz Yücel. Der Welt-Korrespondent sitzt seit dem 14. Februar in Haft. Zu dem Vorwurf, er sei Mitglied einer Terrororganisation – Yücel hatte wie viele andere JournalistInnen Dokumente der Hackergruppe RedHack veröffentlicht, die in der Türkei als Terrororganisation gilt – gesellten sich noch Einschätzungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan höchstpersönlich: Yücel sei ein deutscher Agent. Ein Spion. Ohne jegliche Beweisgrundlage, versteht sich. Wozu braucht man da überhaupt noch ein rechtsstaatliches Verfahren, wenn das Staatsoberhaupt eine Schuldsprechung vorwegnimmt? „Hätte Deutschland von Anfang an Haltung gezeigt, als unzählige JournalistInnen in der Türkei verhaftet wurden, wäre Deniz heute nicht im Gefängnis“, kommentiert Dündar. Görgen hingegen versichert, die Regierung bemühe sich kontinuierlich um die Freilassung von Deniz: „Vertrauen Sie darauf.“

Die Magie der Solidarität

Diese Absurditäten machen fassungslos. Verzweifelt. „Und obwohl sie [die Zelle, Anm. d. Red.] mich meiner Freiheit beraubt, bringen mich das Verhör und die Urteilsbegründung noch immer zum Lachen“, schreibt Yücel in einem Brief aus dem Gefängnis. Was gegen die Machtlosigkeit hilft? Es hilft, wenn Dündar sagt, Erdoğan sehe sein Ende nahen. Eine Art letzter politischer Amoklauf seien diese Repressionen. Es hilft, wenn Akhanlı von der „Magie der Solidarität“ spricht: „Ich bin wortwörtlich gerettet worden. Das verdanke ich der Kölner Öffentlichkeit.“ Es helfen Aussagen von Aslı Erdoğan, wie: „Mein Glaube an die Menschheit war erschüttert. Doch dank der Solidarität und Unterstützung halten wir uns am Leben.“ Sie glaube daran, dass die Türkei die Enge dieser Zeit nur mit Literatur überwinden könne. „Man muss immer den Glauben aufrecht erhalten, dass man die Welt ändern kann. Zumindest die Welt in uns selber. Warum sollte man sonst schreiben?“ Es hilft auch ein Blick in ihre Texte, aus denen die Schauspielerin Bibiana Beglau an diesem Abend vorträgt: „Sie hatte an dem Tag zu schreiben angefangen, um ihre Stellung gegen die blinde Gewalt der Stadt zu verteidigen“, steht in dem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“.

Ja, es helfen Bücher und Filme, wie Görgen sagt, die uns eine andere Welt zeigen. Und Spenden für die Anwaltskosten der Inhaftierten und für neue Projekte, wie die Nachrichtenplattform „Özgürüz“, die Dündar ins Leben gerufen hat. Günter Wallraff, der vierte in der Runde, der Solidarität mit politisch Verfolgten aus der Türkei schon seit Jahrzehnten lebt, schickt einen Spendenkorb durch das Publikum, sagt er werde die gesammelte Menge noch mal drauf schlagen und verdonnert Görgen kurzerhand, es ihm gleichzutun. Wallraff gehört außerdem zum unabhängigen Gremium des Rechtshilfefonds, der vom Kulturforum TürkeiDeutschland und der lit.Cologne ins Leben gerufen wurde. Und es helfen Karten und Briefe. Das Kulturforum verteilt im Foyer Postkarten mit Fotos und Gefängnisanschrift der eingesperrten AutorInnen und PolitikerInnen. Auf jeder trotzen diese Worte in drei Sprachen, universell und zeitlos: „Gedanken kann man nicht einsperren!“

Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit: Aufzeichnungen aus dem Gefängnis | Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | Hoffmann & Campe | 304 S. | 22 €

KulturForum TürkeiDeutschland (mit dem Rechtshilfefonds für Verfolgte in und aus der Türkei) | www.das-kulturforum.de

Seyda Kurt

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