In Deutschland sind sie fast populärer als in ihrer schwedischen Heimat. Lars Gustavsson und Per Olov Enquist zählen zu den festen Größen des Deutschen Buchmarkts. Gustavsson verbindet seit den Tagen der Studentenrevolte eine enge Beziehung mit Deutschland und seinen Autoren, die sich später auch in Publikumserfolgen wie „Tod eines Bienenzüchters“ oder zuletzt „Frau Sorgedahls schöne weiße Arme“ niederschlug. Per Olov Enquists Bestseller „Der Besuch des Leibarztes“ bedeutete auch für ihn den Durchbruch, der von der Kritik noch getoppt wurde, als er mit seinem Buch „Ein anderes Leben“ eine erschütternde Beschreibung seiner Alkoholsucht lieferte.
In diesem Herbst gehen beide im Hanser Verlag mit neuen Büchern an den Start und beide finden ihr Sujet in biographischen Fundstücken ihrer Väter. Gustavsson entdeckte Fotografien, die sein Vater als Sechzehnjähriger schoss. Bilder, die ihn zum Träumen brachten und die in den Roman „Der Mann mit dem blauen Fahrrad“ mündeten. Der junge Vertreter Janne Friberg fährt mit seinem Fahrrad durch die Provinz, um Haushaltsgeräte zu verkaufen. Als er einen stattlichen Gutshof ansteuert, stürzt er mit dem Rad und verstaucht sich das Handgelenk. Im Gutshaus schenkt man ihm nur wenig Beachtung, da die Patriarchin im Sterben liegt und alle auf den Beinen sind. Janne wird in die Bibliothek abgeschoben, wo ihn Müdigkeit und Schmerz abwechselnd überwältigen. Sein Leben zieht an ihm vorüber und zugleich deuten sich große Veränderungen an, als die neue Herrin des Gutes in hauchdünner Seidenbluse und Reitstiefeln ein Auge auf ihn wirft. Mit der Selbstverständlichkeit eines Filmregisseurs lässt Gustavsson in subtilen Überblendungen Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen. Gleichsam in einem Spalt zwischen den Zeiten beginnen sich die Fotografien – auf denen eine junge Frau, ein Mädchen mit Hund, ein Schiffer oder ein ernster junger Mann zu sehen sind – wieder in die Realität zurück zu verwandeln. Eine perfekte Stilübung gelingt dem Schweden, die sich als lustvolle Anleitung zu einem Träumen ausnimmt, das neue Türen zur Wirklichkeit eröffnet.
In Per Olov Enquists „Buch der Gleichnisse“ ist es ein halbverbrannter Notizblock, der Liebesgedichte des Vaters enthält, mit dem die Erinnerung in Bewegung gesetzt wird. Welche Spuren hat die Liebe in seinem eigenen Leben hinterlassen? Dieser Frage geht Enquist mit einer eigenwilligen Akribie nach, in der die Details so lange vor und zurück geruckelt werden, bis sie sich zu einem Bild fügen. Wir erfahren, wie der Fünfzehnjährige auf einem verlassenen Bauernhof von einer 51-jährigen Frau in die körperliche Liebe eingeführt wird. Ein Moment, in dem die strenge religiöse Erziehung von ihm abfällt und das Leben schlagartig einer anderen Kompassrichtung folgt. Enquist schreibt über das Begehren und die Trauer und lässt das Senkblei der Erinnerung immer tiefer in den Schacht seiner Lebensgeschichte ein.
Diese Runde geht an Enquist. Sein „Buch der Gleichnisse“ macht sensibel für die wechselnden Gestalten, die die Liebe annehmen kann. Aber wer weiß, Gustavsson wird sich nicht geschlagen geben und mit dem nächsten Roman vielleicht wieder in Führung gehen.
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