Was ist los mit diesem Amerika, das wir bewundert und verflucht haben, und das uns doch immer der Leitstern der westlichen Welt war? Schon die acht Jahre George Bush haben den Globus verändert, aber man wusste, was man von ihm, dem Republikaner, zu halten hatte. Nun beschneidet Barack Obama, der Präsident, der einmal die Hoffnung des liberalen Amerika darstellte, kaltschnäuzig die Bürgerrechte im eigenen Land. Keinen Zweifel lässt Obama daran, dass uns seine Abhörspezialisten auch in Zukunft ohne mit der Wimper zu zucken ausspionieren werden. Womit haben wir in Zukunft noch zu rechnen im Verhältnis zu den USA?
Eine Frage, auf die der Niederländer Geert Mak in seinem Buch „Amerika!“ viele Antworten gibt. Mak, der mit seinen Reiseberichten „In Europa“ schon einen großartigen kulturellen Identitätscheck des alten Kontinents lieferte, ist auf den Spuren von John Steinbeck durch die USA gereist. Der hatte 1960 seine „Reise mit Charley“ (einem kleinen Pudel) unternommen, die ihm Aufschluss über den Zustand Amerikas liefern sollte. Mak nimmt die gleiche Route von New York über Chicago, Seattle und San Francisco nach New Orleans, und er berichtet von einem entvölkerten Land. Er spricht mit den Menschen im Diner, mit Arbeitern, Lehrern und Farmern und beschreibt den allseitigen Verfall der Main Street. Denn dort existierte einmal der kommunikative Knotenpunkt, aus dem sich die engagierte Seite Amerikas speicherte. Maks Buch wird seine Leser noch über viele Jahre begleiten, weil man in ihm die Strukturen finden kann, nach denen unsere Welt mit ihrem entfesselten Kapitalismus und ihren unkritischen Medien organisiert ist. Vor allem jedoch findet Mak in jedem Hotel und jeder Tankstelle ein Detail, mit dem er uns in den historischen Resonanzraum blicken lässt, in dem Amerika entstanden ist. Von den Indianern über die Befreiungskriege bis zur Entwicklung der Eisenbahn, den Zeitungen oder den Eigenheimen in der entwurzelten Welt der Vororte beschreibt Mak pointiert die Entwicklung, die Amerika genommen hat. Man kann das Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen: Es ist immer interessant, humorvoll und scharfsinnig.
Mak zeigt, dass unser Bild des „großen Verbündeten“, das, worauf sich Europa immer zu verlassen glaubte, verschwindet, weil dieser Riese im Westen selbst in einem gesellschaftlichen Erosionsprozess seine Werte und damit seine Kraft verliert. Jener engagierte Mittelstand, der sich einmischte und aufgrund seines protestantischen Hintergrunds pragmatisch anzupacken verstand, ist verschwunden. Heute regiert die Zentrifuge eines Kapitalismus, der wenige immer reicher und viele immer ärmer macht. Wie die Welt jener aussieht, die noch die Sprechblase vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten im Mund führen, aber zu Hause nichts mehr zu essen haben, zeigt Donald Ray Pollock in seinem fulminanten Roman „Knockemstiff“.
Der Titel bezeichnet eine erfundene Kleinstadt in Ohio, dem Herzen der USA. Auch hier hat die Main Street dicht gemacht, jeder nimmt seinen Kummer in die private Welt, wo die Gewalt dann implodiert. Während Geert Mak noch mit seinen Beobachtungen an der Landstraße ins historische oder soziologische Allgemeine abschweifen kann, steigt Pollocks Fiction in eine schmerzhaft konkrete Realität ein. Die Welt der Trailerparks, der Lastwagenfahrer und der jungen Frauen, die sich für Dope oder eine Tüte Milch für ihr Kind verkaufen, schildert Pollock in ihrer bitteren Gnadenlosigkeit. Er fesselt unseren Blick mit seiner Fähigkeit, in diese Menschen hineinzuschauen und ihre liebenswerte Seite zu entdecken. Es der Blick auf das offen schlagende Herz Amerikas, den uns Pollock gewährt. Unheimlich ist dieses Amerika, das führen uns beide Bücher vor Augen, und beide zeigen, dass Europa sich noch auf einiges wird gefasst machen müssen.
Geert Mak: Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Deutsch von Andreas Ecke und Gregor Seferens. Siedler Verlag, 622 S., 34,99 €
Donald Ray Pollock: Knockemstiff. Deutsch von Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 256 S., 18,90 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die schönen Verrückten
Markus Gasser über Liebe in berühmter Literatur – Textwelten 07/19
Lichtschalter anklicken
Warum wir das Bücherlesen verlernen – Textwelten 06/19
Die Hölle der Liebe
Julian Barnes schreibt sein bitterstes und bestes Buch – Textwelten 04/19
Eine begnadete Unverschämtheit
Der neu gegründete Kampa Verlag präsentiert Simenon – Textwelten 11/18
Erinnerung ohne Schmerz
Rachel Cusks dichte Prosa im Kleid spontaner Konversation – Textwelten 09/18
Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18
Zwischen Herz und Verstand
Ruth Klüger bietet direkten Zugang zur die Welt der Lyrik – Textwelten 04/18
Unheimlich schönes Dorfleben
Ein Roman von Jon McGregor, funktioniert wie fünf Fernsehserien auf einmal – Textwelten 03/18
Demütigung
Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17
Ein notwendiger Roman
Affinity Konar überrascht mit ihrem Meisterwerk „Mischling“ – Textwelten 09/17
Liebe am Mittag
Graham Swift zeigt uns, wie Literatur funktioniert – Textwelten 08/17
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25