„Gegen den Strom“ von Yoshihiro Tatsumi ist eine Inside Story. Der Mangaka Tatsumi, der mit den „Gekiga“ den Manga mit dramatischen Themen für Erwachsene geöffnet hat, erzählt, wie er in den 50er Jahren vom jugendlichen Hobbyzeichner zu einer eigenen Nische auf dem Mangamarkt fand, die die gesamte Kunstform entscheidend weiterentwickelte. Das über 800 Seiten umfassende Mammutwerk ist zugleich eine Coming of Age-Geschichte und ein Portrait der japanischen Nachkriegsgesellschaft (Carlsen). Mit „Der Boxer“ widmet sich Reinhard Kleist der tragischen Geschichte von Hertzko Haft. Als Jugendlicher kommt der polnische Junge Anfang der 40er Jahre in ein KZ. Dort überlebt er als Showboxer für die Nazis. Als er nach dem Krieg in Amerika Erfolg als Boxer sucht, tut er dies nur, um seine Jugendliebe Leah zu finden. Er hofft, dass sie ihn erkennt, wenn über ihn in der Zeitung berichtet wird. Kleist adaptiert die Aufzeichnungen von Hertzkos Sohn Alan. Seine groben Schwarzweiß-Zeichnungen fangen das Grauen im KZ gut ein. Die ambivalente Hauptfigur lässt inhaltliche Schwarzweißmalerei jedoch nicht zu. Ungewöhnlich ist auch, dass er den Schwerpunkt der Geschichte zu gleichen Teilen auf die Lager und die Nachkriegszeit legt (Carlsen).
„Die Krankenschwester“ ist der letzte Teil von Jeff Lemires bewegender Essex County-Trilogie, dessen schlichte, kantige Zeichnungen einen falschen Eindruck vermitteln könnten. Mit dem ersten Band hatte Lemire die Freundschaft eines Waisenjungen mit einem schrulligen Tankstellenwärter skizziert, während der zweite Band einen Ausflug in die Vergangenheit machte. „Die Krankenschwester“ ist nun sowohl in der Gegenwart als auch in der ferneren Vergangenheit angesiedelt, und am Ende schließen sich alle Kreise dieses ruhigen, melancholischen und tief bewegenden Portraits eines einsamen Landstrichs und seiner Bewohner (Edition 52). Stéphane Heuet verlässt mit dem zweibändigen „Eine Liebe Swanns“ erstmals den jungen Protagonisten seiner Proust-Adaption, der hier nur noch als Ich-Erzähler der Liebesabenteuer des Schwerenöters Swann auftritt. Heuets im Stile von Hergé angelegte Reihe ist nach wie vor ein beeindruckendes Unterfangen (Knesebeck). Nach „Shutter Island“ und „Swinging London“ adaptiert Christian De Metter den Mafia-Klassiker „Scarface“ von Armitage Trail, dessen viel bekanntere Verfilmungen an einigen Stellen entscheidend in der Handlung abweichen. De Metter hält sich an das Original und erzählt trocken und ökonomisch. Die Bilder erinnern hingegen wieder einmal eher an Ölgemälde. Ein guter Noir-Krimi in gedeckten Farben (schreiber & leser).
„Grandville“ von Bryan Talbot ist ein düsterer Steampunk-Krimi. Frankreich beherrscht Europa, Brittania hat sich eine geduldete Autonomie erkämpft. Doch Terroristen bedrohen das labile System. Kommissar LeBrock muss einen Diplomatenmord aufdecken und stößt bald auf eine große Verschwörung. Die Tierfiguren sind schnell vergessen in dieser spannenden wie fantasiereichen Geschichte. Nur die Zeichnungen sind ein wenig zu deutlich am Computer entstanden (schreiber & leser). Lewis Trondheim hat mit „Ralph Azham“ eine neue Fantasy-Serie gestartet. Zunächst fragt man sich, warum er sie nicht einfach an sein auf 300 Bände angelegtes, mit Ko-Autor Joann Sfar und einer Heerschar von Zeichnern konzipiertes Donjon-Opus andockt – so ähnlich erscheinen die beiden bislang erschienen „Azham“-Bände schon. Aber dann groovt man sich schnell ein, und es wird klar, warum dies eine eigene Welt sein muss: Hier macht Trondheim wieder alles selber – lediglich die Kolorierung hat er abgegeben(Reprodukt).
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