Für Generationen von Kindern erschöpfte sich ihre literarische Anregung in einer zerlesenen Ausgabe des „Struwwelpeter“. Als sich die Literatur für Kinder und Jugendliche in ganzer Breite zu entwickeln begann, blieb ihr die literarische Anerkennung lange Zeit versagt. Kann Literatur für Kinder überhaupt „richtige“ Literatur sein? Über Astrid Lindgren sind viele lobende Worte gefallen, aber den Nobelpreis – wie immer einmal wieder gefordert wurde – mochte man ihr dann doch nicht verleihen. Und dabei ist es auch nach ihrem Tode geblieben, höhere Weihen bleiben der Erwachsenenliteratur vorbehalten.
Warum sollte sich daran im Zeitalter der Digitalisierung etwas ändern? Dass sich aber tatsächlich etwas verändert, zeigt jetzt die Kinder- und Jugendbuchstudie, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Auftrag gegeben hat. Demnach kaufen immer mehr Männer Bilderbücher und Jugendliteratur. Bei genauerer Nachfrage zeigt sich, dass es sich um spontane Kaufentscheidungen handelt, die sich während des Stöberns in den Buchhandlungen ergeben. Offenbar lässt man sich verführen von einem Angebot, das starke Titel und gut gemachte Illustrationen bietet.
Ein Erwachen geht offenbar durch die Generationen. Um 50 Prozent stieg der Zuspruch der Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren. Und die Zehnjährigen verbindet mit den über Dreißigjährigen die Tatsache, dass ein Viertel der Käufer die Bücher erwerben, um sie selbst zu schmökern.
Die spezifische Situation des E-Books zeigt sich deutlich in den Statistiken. Interessant ist das E-Book für erfahrene Leser und für die Vielleser unter ihnen. Mit dem E-Book lockt man keine Lesemuffel ins Paradies der Belletristik. Erst wenn man sich schon in ihm auskennt, lernt man auch die Möglichkeiten des E-Books schätzen. So greift nur ein Prozent der Kinder und Jugendlichen nach dem E-Book und nur fünf Prozent können sich vorstellen, in ferner Zukunft einmal ein E-Book zu favorisieren. Gerade die jungen Leser, die sich gut mit den digitalen Medien auskennen, bevorzugen zu über zwei Dritteln den Kauf in einer Buchhandlung um die Ecke. Kinder schätzen „kleine Buchhandlungen“, weil 93 Prozent dort die Ruhe beim Ansehen und Reinlesen finden, die sie sich wünschen. Also eine Absage an die Sitzlandschaften der großen Buchhandelsketten.
Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Aussage, dass Kinder und Jugendliche gerade die Beratung in einer Buchhandlung besonders schätzen. Interessant auch, dass erst im Kreis der über 50Jährigen das Internet beim Erwerb eines Buches gut im Rennen liegt. Für junge Leser ist die Buchhandlung offenbar reizvoller als das Netz, wenn sie Entdeckungen machen wollen. Obwohl die Jahresumsätze in den letzten Jahren stetig sanken und niemand mehr damit rechnet, dass einstige Gipfel noch einmal erklommen werden können, zeigt sich doch, dass es an der Basis, im Bereich der Kinder und Jugendlichen, noch einen Hunger auf Bücher gibt. Hier sind zwar auch die Verluste jener Teenager, die nie mit einem Buch in Berührung kommen, gravierend, aber die Statistiken zeigen auch, dass es sich lohnt, um diese Käuferschicht zu kämpfen. Denn unter den 80.000 Besuchern, die in diesem Frühjahr innerhalb von einer guten Woche in Köln zur lit.Cologne strömen, gehört ein Drittel zum Nachwuchs. Mit dem müsste sich doch noch etwas entwickeln lassen wenn nun auch die Erwachsenen schon ein interessiertes Auge auf das Angebot für die Kleinen werfen.
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