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Kunst der Abschweifung

24. Oktober 2011

ComicKultur 11/11

Howard Cruses „Stuck Rubber Baby“ war schon ein Graphic Novel-Klassiker, lange bevor der Begriff Inflation erfuhr. Die Geschichte um den jungen Toland, der mit seinem Coming Out kämpft, ist im Jahr 1963, inmitten der aufkommenden Rassenunruhen im Süden der USA, angesiedelt. Die damalige Veröffentlichung von Carlsen unter dem Titel „Am Rande des Himmels“ aus dem Jahr 1996 ist lange vergriffen, und so ist die Neuauflage im Hardcover sicher für viele die erste Gelegenheit, dieses eindringliche, mit seinen sehr plastischen Schwarzweißzeichnungen an Robert Crumb erinnernde Werk kennenzulernen (Cross Cult). Catel & Bocquet erzählen die Geschichte von „Kiki de Montparnasse“. Alice Prin – so ihr bürgerlicher Name – war in den 1920er Jahren Tänzerin und Modell für unzählige Künstler: Modigliani, Picabia, Soutine, Cocteau oder Man Ray, mit dem sie lange liiert war. Die Biografie der lebensfrohen, unabhängigen Frau aus armen Verhältnissen gelingt so schwungvoll und leichtfüßig, wie man sich ihr Leben vorstellen sollte (Carlsen).

Erst jetzt erscheint die bereits 1996 entstandene Adaption von Laurence Sternes „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ des britischen Cartoonisten Martin Rowson auf Deutsch. Weniger Adaption denn grobe Nacherzählung ergeht sich Rowson ebenso wie das Original aus dem 18. Jahrhundert in der Kunst der Abschweifung: Er lässt Sterne auftreten, flicht Comic-Hommagen ein und thematisiert eine Verfilmung durch Oliver Stone. Eine sowohl grafisch als auch erzählerisch wilde Satire, die in Unkenntnis der Vorlage nur die halbe Wirkung erzielt (Knesebeck). E.T.A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“ haben sich Alexandra Kardinar und Volker Schlecht vorgenommen. Das Ergebnis sieht eher nach ambitioniertem Graphic Design aus, das mit Typo, Collage und Farbe experimentiert. Das ist schön anzusehen, Empathie kommt dabei aber nicht auf. Das gelingt im zweiten Teil, wo Hoffmanns Novelle abgedruckt ist (Edition Büchergilde). Nach „Ein Mann geht an die Decke“ ist „PatchworkKatharina Greves zweiter Comic und steht ihrem Debüt an Skurrilität in nichts nach: Eine Wissenschaftlerin bastelt sich aus Körperresten eine Familie, muss dann aber vor dem sensationsgeilen Mob, der Presse und interessierten Firmen fliehen. Eine humanistische Groteske über Andersartigkeit und Moral (Gütersloher Verlagshaus). Ende der 60er Jahre entwickelte Yoshihiro Tatsumi realistischere Manga für Erwachsene und nannte sie Gekiga. Mit „Existenzen“ werden einige seiner düsteren Kurzgeschichten versammelt. 13 beeindruckende Dramen, die die moralischen Abgründe der Menschen untersuchen. Für Februar ist seine 850 Seiten umfassende Autobiografie „Gegen den Strom“ angekündigt (Carlsen).

Der Kölner Cartoonist Leo Leowald legt mit „Stopptanz“ den dritten Sammelband seines Comic-Blogs „Zwarwald“ vor. Nach seinem Babybuch „Raues Sitten“ zieht es auch ihn zu den Abgründen: Amokläufer, Albträume, Schizophrenie und Gespenster schleichen durch den abseitigen Humor, dessen Entschlüsselung die fehlenden Post-Titel des Blogs erleichtert hätten (Reprodukt). Mit dem vierten Band der „Mummins“ von Tove Jansson steht die Gesamtausgabe der süßen Trolle in Nilpferdgestalt aus den 50er Jahren kurz vor dem Abschluss. Dieses Mal geht es wieder hoch her, weil die Familie aus einer Uhr und einer Nähmaschine ausversehen eine Zeitmaschine gebaut hat. Und ab geht es zu surrealen Abenteuern in den Wilden Westen und ins Rokoko (Reprodukt).

CHRISTIAN MEYER

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