Langweilig, langweilig, langweilig. Mit deutscher Gegenwartsliteratur konnte man Generationen junger Leser in die Flucht schlagen. Was an deutschen Schreibtischen produzierte wurde, galt lange Zeit als sperrig, egozentrisch und unsinnlich. Die Literaturen des Auslands profitierten im Verkauf vor allem von der Zaghaftigkeit, mit der in Deutschland erzählt wurde. In den letzten Jahren hat sich das Blatt jedoch gewendet. Wolfgang Herrndorf verkaufte eine Million Exemplare seines fulminanten literarischen Roadmovies „Tschick“. Im letzten August hat sich Herrndorf das Leben genommen. 2013 war auch das Jahr, in dem Marcel Reich-Ranicki, ein anderer Publikumsmagnet der Szene, verstorben ist. Im Winter starb Peter Kurzeck, ein Autor, dessen feine, unbeirrte Faszination für die kleinen Sensationen des provinziellen Lebens gerade eine größere Leserschaft zu gewinnen begann.
Die Verluste tun weh, zugleich lieferte das Jahr aber auch eine Fülle starker Romane. Der atemberaubenden Patientengeschichte „Leben“ von David Wagner konnten sich auch die Juroren des Leipziger Buchpreises nicht entziehen. Michael Köhlmeier präsentierte mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ sein Opus Magnum, dessen Prosa so fein und kulinarisch entwickelt ist, dass man diesen Ziegelstein von einem Buch gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Peter Stamm bietet mit „Nacht ist der Tag“ eine elegante Geschichte um eine Frau, die buchstäblich ihr Gesicht verliert und sich dann ein neues mit einer veränderten Identität erwirbt. Ein Roman, dessen Bilder wie ein delikat fotografierter Film vor unseren Augen vorbeiziehen. Clemens Meyer taucht mit „Im Stein“ in die Halbwelt von Prostitution und Kleinbürgertum ab und bietet eine vielstimmige Partitur, in der man die Menschen realistisch, schmutzig, klug und zärtlich sprechen hört. Ein Buch, das uns mit dem ungeschönten Sound unserer Zeit konfrontiert.
Aber auch Marion Poschmann, Ulrike Edschmid oder Roman Ehrlich bieten eine Prosa, deren Reife und Weltlust auch in etlichen Jahren noch spürbar bleiben wird. Vom großen – fehlenden – Epochenroman redet heute denn auch niemand mehr, angesichts einer stetig wachsenden Breite an literarischen Talenten, die unverwechselbare Stimmen hervorbringt. Was unterscheidet die Literatur unserer Tage von anderen Dekaden? Das Zutrauen in das Erzählen, seine Tragfähigkeit und Glaubwürdigkeit ist auf eine Weise vorhanden, wie wir sie seit dem großen Krieg nicht mehr hatten. In den sechziger und siebziger Jahren versteckten sich Autoren in Deutschland gerne hinter ästhetischen Reflektionen und einer Literatur, die eher konstatierte, als dass sie auf die Bewegung von Dramatik und Psychologie setzen mochte. Später schien den Autoren schlichtweg der Stoff auszugehen, man flüchtete sich in Introspektion oder die Bearbeitung dokumentarischen Materials. In einer Zeit, in der die spontanen unzusammenhängenden Reize des Internets zum dominierenden Faktor unseres Alltagslebens werden, steht das Erzählen plötzlich wieder hoch im Kurs.
Norbert Gstrein entwirft in „Eine Ahnung vom Anfang“ zum Beispiel das Lebenspanorama eines jungen Mannes, der möglicherweise in den Terrorismus abgedriftet ist, aus der Perspektive seines Lehrers. Das Porträt wird zur Landschaftsskizze unserer gesellschaftlichen Realität. Ein Buch, scheinbar mit leichter Hand geschrieben und zugleich so dicht angelegt, dass man immer wissen will, wie es weitergeht. Die Freude am Erzählen löst einen spielerischen Umgang mit dem Text aus, der vielen Autoren den Mut zum Experimentieren schenkt. Wir werden uns also noch auf einiges gefasst machen dürfen, der Boom wird sich fortsetzen, Krise war gestern.
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