Fragil sind zentralistisch organisierte Staaten oder Konzerne, die mit einer einzigen falschen Entscheidung ins Schlingern geraten. Antifragil sind Deutschlands breit aufgestellter Mittelstand und die dezentralisierte Struktur der Bundesrepublik, in der Entscheidungen auf den unteren Ebenen getroffen werden können. Wenn es sich anders verhält, wie bei gigantischen Projekten von Bahnhöfen, Flughäfen oder Rennstrecken, endet das Abenteuer nicht selten im finanziellen Desaster. Fragil sind denn auch Strukturen, in denen jemand entscheidet, ohne das Risiko tragen zu müssen. „Aber der Bürgermeister eines Dorfes muss sich am Sonntag, wenn er in die Kirche kommt, für seine falschen Entscheidungen vor allen anderen schämen. Bürokraten müssen das nicht“, behauptet Nassim Nicholas Taleb, ein Philosoph, der mit seinen Bestsellern „Glückliche Narren“ und „Der schwarze Schwan“ zurzeit das westliche Denken aufmischt.
Das EXPO XXI-Gelände des Kölner Schauspiels war ausverkauft, als die lit.COLOGNE Nassim Nicholas Taleb mit seinem soeben erschienenen Hauptwerk „Antifragilität“ dem deutschen Publikum präsentierte. Carolin Emcke, selbst Philosophin, bot dem gebürtigen Libanesen zur Begrüßung sein Lieblingsgetränk – selbstgebrauten Kamillentee – und führte mit pointierten Fragen und wohltuender Routine durch den Abend. Eine Lesung, bei der die Konzentration im Raum knisternd spürbar war. Denn Talebs „Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ beschreibt ein Denken, mit dem sich die Hochfinanz ebenso analytisch betrachten lässt wie das Weltverständnis von unserem Alltag. Taleb warnt davor, Zufälle um jeden Preis ausschalten zu wollen, er rät ab vom übertriebenen Wunsch, die Welt mit Vorhersagen zu regieren. Vielmehr gelte es, aus den Pannen und Problemen geistigen Mehrwert zu ziehen. Taleb ist ein Philosoph, der das tätige Leben preist, der mahnt, aus Erschütterungen zu lernen. Denn gerade das ist für ihn „antifragil“ – im Gegensatz zu einem Finanzsystem, das seine Fehler wiederholt.
Antifragilität ist für Taleb dabei nicht gleichbedeutend mit Stabilität. Während das Widerstandsfähige im besten Fall einen Zustand aufrechterhält, gewinnt das Antifragile an Qualität. Es bleibt auf die Realität gerichtet und lässt sich nicht von falschen Vorhersagen täuschen. Dazu gehört auch ein geschickter Umgang mit Informationen, deren schiere Menge reduziert werden muss. Kein Wunder, dass Nicholas Taleb ein glühender Verehrer des Buches ist, wie er in Köln anschaulich erklärte. Taleb propagiert ein energiegeladenes Denken, da er die Erneuerungskraft von Systemen in den Momenten ausmacht, die Störungen, Krankheit und Stress verursachen. „Stressoren machen den Körper stark; würden wir die Jahreszeiten abschaffen und bei einer gleichbleibenden Temperatur von 21 Grad leben, würden wir schnell degenerieren“, behauptet er. Mit den Herausforderungen verbessert sich unser Denken, mit den Verwöhnungen des Komforts erschlafft es. Das Publikum der Lesung fühlte sich durchpulst von Talebs Welterklärung, die er stets konkret und verständlich kommuniziert. Ein Unterfangen, das die lit.COLOGNE mit Sprach- und Gebärdendolmetschern und einer Verschriftung der gesprochenen Worte auf einem Videoscreen imponierend unterstützte.
Nassim Nicholas Taleb: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen | Aus dem Engl. v. Susanne Held | Knaus Verlag | 688 S., 26,99 Euro
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