Als der Philosoph Herbert Marcuse vor 50 Jahren konsumkritisch konstatierte: „Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät“, ging es ihm nicht vorrangig um Konsumkritik. Er, der Marxist, hatte vielmehr erkannt, dass die bunte Warenwelt den Arbeiter von dem abhielt, wozu er durch linke Theorie bestimmt war: Die Emanzipation voranzutreiben und die Klassengesellschaft auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern. Doch Mitte der 1960er Jahre hatte der Arbeitnehmer anderes im Sinn – und zu tun. Neben harten Tagen an den Fließbändern der Industrie wollte er vor allem eines: Wohlstand. Und den versprach die Warenwelt der Nachkriegs-Ära. Statt Klassenkampf hieß es nun Kassenkampf. Die aufkommenden Massenmedien befeuerten den Kaufrausch und verbreiteten zugleich die Kunde vom Wirtschaftswunder. Gewerkschaften handelten höhere Lohnabschlüsse ab und bescherten so ihrer Klientel mehr materielle Teilhabe und der Wirtschaft kaufkräftigere Konsumenten – noch heute ist gewerkschaftsnahe Wirtschaftswissenschaft und -politik konsumorientiert. Der Kapitalismus hatte sein Gegenüber kurzerhand integriert. Die Aussicht auf gesteigerten Konsum durch weiteres Wachstum und vernünftige Lohnabschlüsse hielten die Arbeiter bei der Stange. Der „eindimensionale Mensch“ war erschaffen, die Gesellschaft ohne Opposition war auch ohne Polizeigewalt möglich.
Heute ist der Konsument eines der am besten erforschten Lebewesen des Planeten. Soziale Netzwerke werden ausgewertet und Konsumentenprofile erstellt, die es der Industrie ermöglichen, uns noch leichter zu verführen. Gleichzeitig helfen wir aktiv mit: Sich was schönes kaufen und das Glück darüber auf facebook, twitter & Co zu teilen, bringt dem Konsumenten scheinbare Anerkennung und liefert kostenlose Reklame mit hohem Authentizitätsfaktor. Wenn es um Wachstum und Profit geht, überlässt die Wirtschaft nichts dem Zufall. Ganze Firmenabteilungen sind damit beschäftigt, unsere Seelen zu ergründen und unser Begehren zu steigern. Da werden Menschen in Kernspintomografen geschoben und bekommen Fotos von Shampooflaschen zu sehen, oder sie schlürfen Getränke durch einen Schlauch, während Hirnforscher die Vorgänge im Gehirn betrachten. Die Ergebnisse sind so einleuchtend wie einfach: Wenn es um den Verbrauch geht, wird in uns der Höhlenmensch angesprochen. Über Jahrtausende war Mangel der Normalfall und möglichst viel zusammenzuraffen war eine Erfolgsstrategie. Daran hat auch eine kurze, rund 50-jährige Periode des Überflusses nichts geändert. „Mehr“ bedeutete zu allen Zeiten „besser“, denn es sicherte das Überleben. Glaubt man Evolutionsbiologen, so liegen die Wurzeln für unsere Kaufrausch-Anfälligkeit in der Menschheitsgeschichte.
Doch während die Muster aus Millionen Jahren Evolution noch tief in uns stecken, hat sich unsere Umwelt dramatisch verändert: Der Engpass ist für die meisten Menschen in den Industrienationen zur Ausnahme geworden. Heute haben wir in der westlichen Welt mehr von allem, als wir jemals gebrauchen, genießen oder uns leisten können. Trotzdem jagen und sammeln wir noch, als ginge es abends zurück ans Lagerfeuer in die Höhle. Längst hat der Konsum neue Funktionen übernommen, die uns als unverzichtbar erscheinen. Studien belegen: Menschen nutzen das Einkaufen gezielt, um ihre Gefühle zu regulieren – um Ängste oder schlechte Laune zu vertreiben, aber auch um gute Momente zu zelebrieren. Das Glück in Tüten regt das Belohnungszentrum im Gehirn ähnlich an wie Sex oder Drogen. Manche Menschen werden sogar konsumsüchtig.
Kehren wir zurück zu Marcuse, der die politische Dimension des Konsums zu entschlüsseln suchte. Als Gegenstrategie sah er nur die „Große Verweigerung“, die sich heute in alternativem Wirtschaftshandeln andeutet. Es gibt sie, die „Randgruppen“, von denen Marcuse glaubte, dass sie das Andere der gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung verkörpern könnten. Waren aber die Aussteiger der 70-er und 80-er Jahre noch romantisch bewegt und wollten raus aufs Land, etabliert sich heute eine Schicht urbaner Aussteiger. Der Postwachstumsökonom Nico Paech (lesen Sie hier ein Interview mit ihm) spricht von „urbaner Subsistenz“. Statt in der Flucht aufs Land sieht er die Zukunft in einem Mehr an nicht-industriellen Versorgungsformen, die ein Mehr an sozialer Vernetzung benötigen, die wiederum eher in hochverdichteten Metropolen zu finden ist. Konsumaussteiger im Kleinen, die keine neuen Klamotten mehr kaufen, sondern tauschen; die in Urban-Gardening-Projekten ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen; die sich mit Nachbarn oder Freunden ein Auto teilen – fern von kommerziellen Car-Sharing-Angeboten. Marcuse hätte das sicherlich gefallen.
Aktiv im Thema:
www.experimentselbstversorgung.net
www.umweltbundesamt.de
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