Solche Geschichten gibt es (fast) nur in Romanen: Der emeritierte Altphilologe Richard trifft zufällig auf dem Berliner Oranienplatz eine Gruppe junger afrikanischer Männer, die aus Protest gegen das Asylrecht campieren, und tut das, was wohl die wenigsten von uns tun würden. Er spricht mit ihnen und beginnt sich für ihre Geschichten zu interessieren. Ausgerechnet der gut situierte Professor, der sein ganzes Leben in einer abgeschotteten, heilen Welt aus Büchern und klassischer Musik gelebt hat, begibt sich an den Rand der Gesellschaft, um herauszufinden, wer diese Menschen sind, die den weiten Weg aus den verschiedenen Ländern Afrikas auf sich genommen haben. Um diesen Roman schreiben zu können, musste sich die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck auf dieselbe Reise begeben, wie ihr Protagonist. Dem Publikum im ausverkauften VHS-Forum erklärt sie, dass sie sich, genau wie auch Richard, mit den einzelnen Schicksalen der Flüchtlinge beschäftigen wollte. Die Gespräche, die sie führte, handeln von Terror und Vertreibung, Erpenbeck hat sie durch Richards Stimme eingefangen und bietet dem Leser so einen Perspektivwechsel, der durch die Massenmedien leider nur selten geboten wird.
Richard verlässt also sein Rentnerdasein und legt die Frage, ob er nun eher Jacketts oder Strickjacken zuhause tragen sollte, unbeantwortet beiseite. Stattdessen trifft er sich mit dem jungen Osarobo aus Niger in einem Café, wo er erfährt, dass alle Freunde des Jungen in seiner Heimat getötet wurden. Mehr ist aus ihm nicht herauszubekommen, außer der Satz: „Life is crazy“, den Osarobo fortlaufend wiederholt, um die Leerstellen zu füllen, die sich in den Gesprächen immer wieder eröffnen. „Dieses Nicht-Erzählen ist auch eine Aussage“, erklärt die Autorin, die wie ihre Hauptfigur, die Idee nicht aufgeben wollte, den jungen Afrikanern zu helfen und näher zu kommen. Richard nähert sich den Flüchtlingen auf seine ganz eigene, wissenschaftliche Art, was sich in der klaren und nüchternen Sprache des Romans widerspiegelt. Er lernt wie die Hauptstädte ihrer Heimatländer heißen, beschäftigt sich mit ihrer Geschichte und stellt so eine kulturelle Nähe zwischen Afrika und Europa fest, die er vorher nicht vermutet hätte.
Er freundet sich außerdem mit Ithemba an, der arbeiten möchte, dies aber nicht darf, weil er in Italien den „Duldungsstatus“ erhalten hat, welcher eine Abschiebung zwar verzögert, ihm jedoch aus rechtlichen Gründen die Arbeitsaufnahme in Deutschland verweigert. Ein bürokratischer Alptraum. Gemeinsam mit Ithemba geht Richard zu einem Rechtsanwalt, der den beiden die rechtliche Situation der Geflüchteten erläutern möchte, sie aber stattdessen mit der leisen Vorahnung zurücklässt, dass diejenigen, die nicht auf der Überfahrt ums Leben kommen, spätestens in Deutschland in einem Meer aus Akten ertrinken werden.
Die Literaturkritikern Sigrid Löffler stellt im anschließenden Gespräch fest, dass „Gehen, ging, gegangen“ genau das schafft, was gute Literatur schaffen sollte. Der Roman stellt Innenansichten dar, die dem Leser sonst verschlossen bleiben und erzeugt so Nähe und Mitgefühl für Menschen, die zwar unter uns leben, aber den meisten von uns vollkommen fremd sind.
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