Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24 25 26 27

12.606 Beiträge zu
3.829 Filmen im Forum

Jenny Erpenbeck (rechts) im Gespräch mit Literaturkritikerin Sigrid Löffler
Foto: David Gruber

Der Blick nach Innen

24. Februar 2016

Lesung und Gespräch mit Jenny Erpenbeck am 22.2. im Rautenstrauch-Joest-Museum – Literatur 02/16

Solche Geschichten gibt es (fast) nur in Romanen: Der emeritierte Altphilologe Richard trifft zufällig auf dem Berliner Oranienplatz eine Gruppe junger afrikanischer Männer, die aus Protest gegen das Asylrecht campieren, und tut das, was wohl die wenigsten von uns tun würden. Er spricht mit ihnen und beginnt sich für ihre Geschichten zu interessieren. Ausgerechnet der gut situierte Professor, der sein ganzes Leben in einer abgeschotteten, heilen Welt aus Büchern und klassischer Musik gelebt hat, begibt sich an den Rand der Gesellschaft, um herauszufinden, wer diese Menschen sind, die den weiten Weg aus den verschiedenen Ländern Afrikas auf sich genommen haben. Um diesen Roman schreiben zu können, musste sich die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck auf dieselbe Reise begeben, wie ihr Protagonist. Dem Publikum im ausverkauften VHS-Forum erklärt sie, dass sie sich, genau wie auch Richard, mit den einzelnen Schicksalen der Flüchtlinge beschäftigen wollte. Die Gespräche, die sie führte, handeln von Terror und Vertreibung, Erpenbeck hat sie durch Richards Stimme eingefangen und bietet dem Leser so einen Perspektivwechsel, der durch die Massenmedien leider nur selten geboten wird.

Richard verlässt also sein Rentnerdasein und legt die Frage, ob er nun eher Jacketts oder Strickjacken zuhause tragen sollte, unbeantwortet beiseite. Stattdessen trifft er sich mit dem jungen Osarobo aus Niger in einem Café, wo er erfährt, dass alle Freunde des Jungen in seiner Heimat getötet wurden. Mehr ist aus ihm nicht herauszubekommen, außer der Satz: „Life is crazy“, den Osarobo fortlaufend wiederholt, um die Leerstellen zu füllen, die sich in den Gesprächen immer wieder eröffnen. „Dieses Nicht-Erzählen ist auch eine Aussage“, erklärt die Autorin, die wie ihre Hauptfigur, die Idee nicht aufgeben wollte, den jungen Afrikanern zu helfen und näher zu kommen. Richard nähert sich den Flüchtlingen auf seine ganz eigene, wissenschaftliche Art, was sich in der klaren und nüchternen Sprache des Romans widerspiegelt. Er lernt wie die Hauptstädte ihrer Heimatländer heißen, beschäftigt sich mit ihrer Geschichte und stellt so eine kulturelle Nähe zwischen Afrika und Europa fest, die er vorher nicht vermutet hätte.

Er freundet sich außerdem mit Ithemba an, der arbeiten möchte, dies aber nicht darf, weil er in Italien den „Duldungsstatus“ erhalten hat, welcher eine Abschiebung zwar verzögert, ihm jedoch aus rechtlichen Gründen die Arbeitsaufnahme in Deutschland verweigert. Ein bürokratischer Alptraum. Gemeinsam mit Ithemba geht Richard zu einem Rechtsanwalt, der den beiden die rechtliche Situation der Geflüchteten erläutern möchte, sie aber stattdessen mit der leisen Vorahnung zurücklässt, dass diejenigen, die nicht auf der Überfahrt ums Leben kommen, spätestens in Deutschland in einem Meer aus Akten ertrinken werden.

Die Literaturkritikern Sigrid Löffler stellt im anschließenden Gespräch fest, dass „Gehen, ging, gegangen“ genau das schafft, was gute Literatur schaffen sollte. Der Roman stellt Innenansichten dar, die dem Leser sonst verschlossen bleiben und erzeugt so Nähe und Mitgefühl für Menschen, die zwar unter uns leben, aber den meisten von uns vollkommen fremd sind. 

David Gruber

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

Die Schlümpfe – Der große Kinofilm

Lesen Sie dazu auch:

Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25

Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25

Seelen-Klempner
Susann Pásztor liest in Leverkusen

Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25

Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25

Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25

Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25

Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25

Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25

Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25

Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25

Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25

Literatur.