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Hassan Blasim und Antonio Ortuño
Fotos: Verlag Antje Kunstmann (l.) / Katja Bohm (r.)

Trauma der Flucht

29. Oktober 2015

Mit den Flüchtlingen ist die Literatur über sie da – Textwelten 11/15

Die große Flüchtlingswelle ist zwar erst in diesem Sommer über Deutschland hereingebrochen, aber es sind nicht nur die Nachrichtenmedien, die dieses Thema verhandeln. Auch die Literatur war zur Stelle. Wie so oft, ahnten die Autoren die Entstehung eines Phänomens, bevor es die Realität unseres Alltags zu beherrschen begann. Eine voll belegte Flüchtlingsunterkunft, in die eine Brandbombe geworfen wird, selbst dieses Szenario gehört schon zu den Standards. Für den Mexikaner Antonio Ortuño bildet diese Situation den Ausgangspunkt seines Romans „Die Verbrannten“. Ortuño schildert die Verbindung zwischen den Banden, die derartige Verbrechen begehen, und der Polizei, die still hält und die Spuren der Täter verwehen lässt. Aufklären soll den Fall Irma, eine Außenseiterin, und sie zeigt sich hartnäckig. Zugleich verwebt sich ihr Schicksal mit dem eines Kindes, dass von Mexiko in die USA gelangt. Antonio Ortuño schreibt präzise, illusionslos und voll bitterer Ironie über das Böse, das zur Norm in einer korrupten Gesellschaft wird. Dennoch ist sein Blick für die, die nichts als sich selbst haben, voller Zärtlichkeit.

Auch Hassan Blasim schildert die Hölle von innen, bei ihm heißt sie Irak. Wahnhafte Züge nimmt die Gewalt in den Straßen von Bagdad an, da jeder gegen jeden Krieg zu führen scheint. In einem solchen Gebilde ist nicht mehr zu leben, es gibt weder Schutz noch Ordnung. Mit dem Titel „Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten aus dem Irak“ sind schon die absurden Wendungen angedeutet, die manche von Blasims Erzählungen nehmen. Stets folgen sie meisterhaften Kompositionen und enthalten immer ein pointiertes Ende. Mit der Flucht nach Serbien schlagen die Texte die Brücke nach Europa und selbst der Laster mit getöteten Flüchtlingen findet sich hier schon bevor er in der Realität auftauchte.

Mit Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ spannt sich unsere deutsche Perspektive zwischen Neugierde, Ignoranz, Scham und Anteilnahme auf. Der Prozess des Hinsehens und Wegsehens vollzieht sich für ihren Protagonisten, einen pensionierten Professor, vor der Frage, was im Angesicht des nahen Todes wirklich zählt im Leben. Die Aufgabe der Literatur, das komplexe Terrain der widersprüchlichen Emotionen zu kartieren, wird in Erpenbecks Roman mit leichtem Ton und unnachgiebiger Konsequenz gestellt. Ein in seiner Komplexität großartig entworfener Roman.

Dass es auch ganz klein geht und sich mit wenigen Sätzen in die mitunter von Verzweiflung verdüsterte Welt der Flüchtlinge schauen lässt, demonstriert der Roman „Vielleicht dürfen wir bleiben“ von Ingeborg Kingeland Hald. Die Norwegerin erzählt die Geschichte von Albin, einem bosnischen Jungen, der es eigentlich geschafft hat. Perfekt eingegliedert in die norwegische Gesellschaft droht der Familie plötzlich die Rückführung. Traumatisiert von der ersten Flucht, reißt der Elfjährige kurzentschlossen aus. Ein Roman nicht nur für Jugendliche, der verständlich macht, dass Menschen ohne die Bindung an einen Ort oder eine Gemeinschaft psychisch verenden.

Antonio Ortuño: Die Verbrannten | A. d. Span. v. Nora Haller | Kunstmann | 206 S. | 19,90 €

Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz | A. d. Arab. v. Hartmut Fähndrich | Kunstmann | 256 S. | 19,90 €

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen | Knaus | 352 S. | 19,99 €

Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben | A. d. Norw. v. Maike Dörries | Carlsen | 110 S. | 9,99 €

Thomas Linden

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