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Michel Friedman
Foto: Thomas Dahl

„Der Mensch kann lernen“

17. März 2022

Michel Friedman über Streitkultur – Interview 03/22

Zwei Stunden vor seiner Teilnahme an einer Diskussionsveranstaltung am Ehrenfelder Urania-Theater nahm sich Philosoph, Buchautor, Jurist und Journalist Michel Friedman Zeit für ein Interview über eine der rückständigsten  Kommunikationsformen unserer vermeintlich aufgeklärten Zivilisation: den Streit.

choices: Herr Friedman, Sie schreiben in Ihrem Buch „Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer“, der Streit sei wunderbar. Wie meinen Sie das?

Michel Friedman: Streiten steht für das Infragestellen von sich, anderen und Inhalten. Wenn Sie so wollen, steht das Streiten für ein Fragezeichen und das Fragezeichen ist Voraussetzung für Denken, Reflektieren und Umgehen mit Wissen. Deshalb ist Streiten nicht nur kognitiver, sondern auch sinnlicher Prozess. Wir sind sowohl emotionale, als auch Verstandeswesen. Es ist daher wichtig, dass wir unsere Emotionen in Worte kleiden. Damit dürfen wir andere Menschen jedoch nicht persönlich beleidigen.

Wie misslingt ein fruchtbarer Streit?

Ich weiß nicht, was Sie unter „fruchtbar“ verstehen. Ich glaube, dass ein Streit mit dem Ergebnis „we agree to disagree“ enden kann. Wesentlich ist, dass man sich austauscht. Dabei kann man sich näherkommen, ohne die Meinung des anderen zu übernehmen. Wenn Sie fragen, was die Voraussetzungen für eine Streitkultur sind, dann beginnt es mit der Anerkennung des Anderen als gleichwertiger Mensch. Wenn dies nicht gegeben ist, ist eine Diskussion nicht mehr möglich, denn wenn ich Ihre Würde nicht respektiere, dann höre ich auch nicht zu, was Sie sagen. Die zweite Voraussetzung ist eine Akzeptanz der Tatsachen. Wir können kein Streitgespräch führen, wenn jemand sagt, die Schwerkraft existiere nicht. Die dritte Grundbedingung ist, dass ein Streit nicht als Selbstbestätigung stattfindet. Wenn ich nur streite, um Recht zu bekommen, ist es ein Monolog. Streiten ist nicht recht haben, sondern eine Voraussetzung für Fortschritt, die letztendlich zur Evolution des Menschen beiträgt.

Das Thema ist ja nicht neu. Sokrates und Platon haben die Technik des Hinterfragens und gesitteten Streitens mittels ihrer Symposien schon vor rund 2.500 Jahren behandelt und damit bis in die Gegenwart vor allem bereits aufgeklärte Menschen erreicht. Man könnte konstatieren, das Modell für die Allgemeinheit sei gescheitert.

Aber in der damaligen Zeit gab es nicht die Auffassung, dass alle Menschen gleich sind. Unser humanistisch-zivilisiertes Weltbild besteht darin, dass die Würde jeder Person unantastbar ist. George Tabori sagte in seinem Theaterstück: „Jeder ist jemand“. Wir sind zwar weitergekommen, aber noch lange nicht an dem Punkt, wo ich sagen würde, die Streitkultur sei in unserem Alltag verankert. Das fängt schon damit an, dass wir Streit als etwas Negatives empfinden.

Darf man sich mit allen im Sinne eines Diskurses streiten – auch mit Rassisten?

Wenn mir jemand abspricht, ein Mensch oder ein gleichwertiger Mensch zu sein, dann habe ich keine Chance auf einen Dialog. Nicht ich verweigere dann den Dialog, sondern der andere, der meine Menschwürde in Frage stellt. Wir reden immer davon, den Anfängen zu wehren. Wir sind nicht am Anfang, wir sind mittendrin! Das Menschenrecht ist nicht verhandelbar.

Im Vorfeld der Diskussionsrunde zum Thema „Streitkultur“, an der Sie im Kölner Urania Theater teilnehmen, gab es Schmierereien an der Stätte, die Sie persönlich beleidigen. Würden Sie das Gespräch mit diesen Personen suchen?

Ich kenne diese Personen nicht, deshalb kann ich mich dazu nicht äußern. Wenn sich heute im Theater jemand meldet und mich kritisiert, dann ist ein Dialog vielleicht möglich. Ich habe keine Angst davor zu antworten. Wesentlich ist doch, wir haben einen menschenverachtenden Rassismus, der strukturell in dieser Gesellschaft verankert ist. Es geht darum, dass jeden Samstag auf Fußballplätzen gegnerische Mannschaften Juden- oder Schwulenmannschaft genannt werden. Jeden Samstag sehen wir, wie schwarze Spieler mit Bananen beschmissen und Affenlaute gemacht werden, und mit einer Ausnahme, vor ein paar Wochen, laufen die Spiele einfach weiter. Dabei müsste eigentlich Schluss mit Spiel und Sport sein – ist es aber nicht. Das ist die Reflektion der Gesellschaft, unser Spiegelbild.  

Sie entstammen einer polnisch-jüdischen Familie. Wird in anderen Kulturen anders gestritten?

Das kann ich nicht beurteilen. Es ist jedoch festzustellen, dass es eine andere Streiterfahrung und Bewertung gibt. Man kann ja über Großbritannien denken, was man will, aber eins sieht man: eine unglaubliche Dichte in diesem Parlament. Eine Nähe, in der die Redner unterbrochen werden, in der gerungen wird. Wenn Sie sich dann diesen steril aufgebauten Bundestagsstil ansehen, merken Sie alleine an der Ästhetik Unterschiede, wie man Streitkulturen repräsentiert. Die Debating-Clubs sind eine immens wichtige Errungenschaft im englischsprachigen Raum. Das haben wir bisher an unseren Universitäten nicht so umsetzen können.

Warum funktioniert das hier nicht?

Weil das ein weiteres Signal des Nichtgelernten ist. Das hat bestimmt auch mit 1945 und den Folgen zu tun. Ein Streit in der Familie hätte immer dazu führen können, dass die Frage aufgekommen wäre „Was hast du getan, Papa, Mama, als die Juden abgeholt, Hitler gebrüllt, als die Morde vorbereitet wurden?“. Dieses Schweigen, das wir zur Kultur der „Nach-45er“ gemacht haben, ist eine Erfahrung, die sich auch in die dritte Generation fortgesetzt hat. Die letzten 20 Jahre waren meiner Meinung nach die Zeit des gepflegten Streits – ein Widerspruch an sich, denn der gepflegte Streit hört genau da auf, wo es um die substantielle Kraftanstrengung geht, wo wir feststellen, dass wir anderer Meinung sind und uns anstrengen müssen, dies begründet miteinander auszuhalten und darüber zu diskutieren. Das ist ein Hinweis auf eine Zeit der Entpolitisierung, in der wir insgesamt sehr übergewichtig unsere Demokratie auf dem Tisch liegen gelassen haben.

Übergewichtig?

Übergewichtig. Weil wir nicht das Gefühl hatten, dass wir im Training sein müssen, dass wir Hirnjogging vollführen müssen. Was bedeutet für uns Demokratie, Menschwürde, Gerechtigkeit, Freiheit? Das ist eine Alltagsverhandlung, die wir führen müssten. Wir haben deswegen auch nicht sehen wollen, dass jene Seite, die Demokratie – nicht nur in Deutschland – zerstört, nicht übergewichtig oder müde war, sondern dass sie mit voller Energie ihre politischen Betrachtungen der Welt fortgesetzt hat. Da gab es bei uns immer wieder extreme Gewaltmomente, beispielsweise im Zusammenhang mit den NSU-Morden oder den Geschehnissen in Hoyerswerda. Letztendlich hat es bis zum letzten Jahr gedauert, bis ein Bundesinnenminister sagen konnte, die größte Gefährdung der Demokratie käme vom Rechtsextremismus. Wir müssen uns mehr streiten. Der Streit ist aber kein monologisches, sondern ein dialogisches Prinzip. Und wenn jemand dabei eine rassistische Bemerkung macht, dann ist das kein Argument mehr, sondern Gewalt. 

Ist Streiten im digitalen Zeitalter schwieriger geworden?

Ich gehöre zu den Kulturoptimisten. Neue Medien verändern Gesellschaften und ihre Kommunikation. Es ist auch hier ein Lernen nötig und möglich. Wir sind in der Lage, mit Menschen auf der ganzen Welt unsere Gedanken auszutauschen, aber es besteht natürlich die Gefahr von Manipulation. Das gab es aber auch schon in früheren Zeiten. Die große Gefahr ist der hasserfüllte Angriff auf denjenigen, der eine andere Meinung hat. Das war mit der Hauszeitung schwerer zu realisieren.

Wie realistisch ist in diesem Zusammenhang eine Transformation des von Marshall B. Rosenberg entwickelten Modells einer gewaltfreien Kommunikation (GFK) in die Praxis, denn letztlich ist der Mensch Instinktwesen und folgt seinen Trieben?

Damit haben Sie recht. Das ist die Herausforderung in der Zivilisationsgeschichte. Unsere Affekte, unsere Ängste, unsere Sexualität sind die Grundbedingungen unseres Handelns. Die Zivilisiertheit ist ja eine Unterdrückung dieser Natursituation. Es braucht dafür eine längere Evolutionsgeschichte. Wir haben Angst vor dem Kontrollverlust und sind uns bewusst, dass wir endliche Wesen sind. Das zeigt uns jetzt Corona. Daraus werden Affekte verstärkt mobilisiert. Ich werbe für die Lust und Kraft, sich mit verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen. Es ist eine Grundinvestition in die Lebensqualität.

Müsste dann, im Sinne der positiv-besetzten Auseinandersetzung, das Streiten bereits in den Schulen als Fach eingerichtet werden, damit die Menschen damit aufwachsen?

Ich bin absolut dafür, dass wir mehr Demokratie in der Schule leben und als Unterrichtsfach etablieren. Das setzt aber voraus, dass auch Lehrer dies wollen und können. Auch hier ist die Ausbildung gefordert. Ich bestehe darauf, dass der Mensch lernen kann.

Eine letzte Frage, mit der Bitte um eine kurze Antwort: Mit wem möchten Sie sich gerne noch streiten?

Ich beantworte diese Frage genauso wenig wie die Frage, wer mein spannendster Gast in 30 Jahren Fernsehshows oder, jetzt, im Netz ist. Ich würde diese Frage nicht einmal denken, denn die Kategorie wäre statisch. Meine Erfahrung ist, dass alles, was ich heute in mir trage, das Ergebnis des Streites mit mir selbst und anderen Menschen ist.

Herr Friedmann, ich bedanke mich für das Gespräch!

Danke für Ihre Zeit.

Interview: Thomas Dahl

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