Seit es das Hörbuch gibt, argwöhnt man über seine Tauglichkeit für den Markt der Medien. Vor allem die Tatsache, dass Hörbücher als Compactdisks verkauft werden, schien seit jeher ihre Chancen für die Zukunft zu minimieren. Schon in den neunziger Jahren wurde der CD als Tonträger eine kurze Lebenserwartung prognostiziert. Dem stehen nun unglaubliche 14 Millionen CDs entgegen, die im letzten Jahr über die Ladentheke gingen. Nie zuvor wurden in Deutschland mehr Hörbücher verkauft, auch in den USA explodiert der Markt zurzeit.
Dabei hatten die Hörbücher nie mehr Konkurrenz aus den eigenen Reihen, als in unserer Gegenwart. Der Downloadbereich schöpft mit seinen Dumpingpreisen einen beachtlichen Teil des Konsums an Hörbüchern ab. Dort wird das Geschäft mit schnell und billig produzierter Ware gemacht, für die man keine Filmstars engagiert, sondern einen Schauspieler aus der Region ein paar Stunden vor dem Mikrofon agieren lässt. Das Interesse an den CDs kann das nicht schmälern: Selbst ein sperriger Titel wie James Joyce' „Ulyssees“, ein Jahrhundertwerk, das aber etwa Marcel Reich-Ranicki für unlesbar hielt, wird aufwändig mit zwei Dutzend Stimmen produziert und kostet 100 Euro. Trotzdem wurden von diesem Titel 14000 Stück verkauft.
„Es ist die Generation, die auf dem Rücksitz des Autos während des Familienausflugs die „Drei Fragezeichen“ gehört hat, der diese Entwicklung zu verdanken ist“, meint Heike Völker-Sieber vom Arbeitskreis der Hörverlage im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. „Dieser Generation muss man den Wechsel zwischen den Medien nicht erklären“, meint sie und tatsächlich wird von den Rezipienten auf der ganzen Palette der Trägermedien gehört. Vom Autofahren bis zum Joggen oder dem Hausputz am Wochenende, der Geschichte, der man gerade lauscht, kann überall gefolgt werden. Das heißt auch, dass vor allem die Inhalte zählen und diese Tatsache ist immer ein Indiz für nachhaltiges Interesse. Auch die Statistik belegt, dass das Hören nicht fort vom Lesen führt. Sechzig Prozent der Konsumenten behaupten, dass sie mehr Bücher lesen, seit sie sich Literatur vorlesen lassen.
Eine Entwicklung, die bildungsbürgerliche Schwellen gegenüber einer Gattung wie etwa der Lyrik einebnet. Denn im Vorlesen eines Gedichts ist immer schon eine Anweisung auf seine Interpretation enthalten, und wer einmal Bernt Hahn gelauscht hat, wenn er Texte von Arno Schmidt vorträgt, erfährt einen wundervoll spielerischen Zugang ins Reich des Bärbeiß der deutschen Literatur.
Besonders die Buchhandlungen mit ihren Möglichkeiten zur Beratung, profitieren mit einem sechsprozentigen Umsatzplus von dieser Entwicklung. Das Potenzial des Hörbuchmarkts wirft vor allem jedoch ein Licht auf ein nicht mehr für möglich gehaltenes Rezeptionsverhalten der Leser. Denn während die digitalen Medien unsere Konzentrationsfähigkeit unablässig durch neue Infos torpedieren, zeigt sich, dass Millionen von Menschen über Stunden dem Fortgang einer Geschichte zu folgen vermögen. Der Börsenverein weist denn auch darauf hin, dass der Trend der Rundfunkanstalten zu kurzen Beiträgen von maximal zwei Minuten und die Streichung von Kulturformaten in ihren Programmen, vollkommen an diesem Bedürfnis – und offenbar auch der Fähigkeit – jener Menschen vorbeirauscht, die sich dauerhaft und intensiv mit Literatur beschäftigen möchten. Eine hoffnungsvollere Botschaft hat nicht nur die Literatur, sondern die gesamte kulturelle Landschaft, seit Jahren nicht mehr erhalten.
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