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Alix Faßmann u. Anselm Lenz befragt von Tilmann Strasser
Foto: Mario Müller

Verweigerer des Kapitalismus

26. März 2016

Haus Bartleby-Mitglieder lasen im King Georg aus ihrer Textsammlung – Literatur 03/16

I would prefer not to... Mit dieser höflichen Erklärung weist der Schreiber Bartleby in einer Erzählung von Herman Melville jede Anweisung zurück. Diese Verweigerungshaltung hat ihn zum Namensgeber des Berliner Vereins „Haus Bartleby“ gemacht, einem „Verein für Karriereverweigerung“. Mit Alix Faßmann und Anselm Lenz waren nun zwei der Gründer des Vereins zu Gast im King Georg. „Sag alles ab!“ ist der Abend überschrieben, benannt nach dem Titel einer Textsammlung, die vom Haus Bartleby herausgegeben wurde. Den Titel steuerte Tocotronic–Sänger Dirk von Lowtzow bei, der ebenso zum losen Netzwerk (und zu den Autoren des Buchs) gehört wie David Graeber oder Yannis Varoufakis.

Die Gäste lesen zunächst ihre eigenen Texte. Von Anselm Lenz ist eine scharfe Abrechnung mit den Zuständen in der kapitalistischen Arbeitswelt zu hören. Im anschließenden Gespräch beschreibt er seine eigene Karriere-Verweigerung: Er habe sich beruflich für das entschieden, was ihn wirklich interessiert, und arbeitet heute als Theaterdramaturg. Kritik übt er an falschen, neoliberal geprägten Bildern, die uns umgeben, wie das von der „Selbstverwirklichung“ durch die Karriere.

Alix Faßmanns Text merkt man ihren journalistischen Hintergrund an. Sie stellt den amerikanischen Ökonom Daniel Ellsberg ins Zentrum. Der hat durch die Veröffentlichung der geheimen Pentagon-Papiere dazu beigetragen, dass der Vietnamkrieg beendet wurde. In das Buch passt der Whistleblower, weil er sich durch seine Entscheidung um die Karriere brachte, aber dabei doch etwas Positives erreicht hat – für die Gesellschaft. Faßmann selbst war als Journalistin für den Vorstand der SPD tätig, wo sie neue Möglichkeiten einer Beteiligung der breiten Basis auf den Weg bringen sollte. Als das nicht so ernst verfolgt wurde, wie sie sich das vorstellte, kündigte sie und reiste zunächst durch Europa.

In der anschließenden Diskussion übernimmt Moderator Tilman Strasser vom Kölner Literaturhaus die Rolle des kritischen Fragers: Wird da nicht Karriere gemacht mit der Karriereverweigerung? Alix Faßmann antwortet, die Menschen mit dieser Frage würden Karriere mit Öffentlichkeit verwechseln. Letztere ist ein erklärtes Ziel der Gruppe. Es wird deutlich, wie groß die Aufregung, wie stark die Reaktionen heutzutage sind, wenn sich jemand öffentlich lossagt von den Regeln der (kapitalistischen) Arbeitswelt. Es gebe dennoch viele Menschen, die ihrer Ansicht seien – dies aber nicht öffentlich kundtun. Auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Arbeitsverweigerung sei fehl am Platz, denn es gehe ihnen nicht um eine grundsätzliche Verweigerung von Tätigkeit. Tätig ist die Gruppe durchaus, so kommen die Gäste zum Termin direkt aus Wien, wo gerade ein Kapitalismustribunal organisiert wird. Dabei soll der Kapitalismus angeklagt werden. Jeder darf (online) Anklage erheben, nach der Verhandlung sollen neue Regeln für ein Miteinander aus diesen Fällen abgeleitet werden.

Für Fragen aus dem Publikum ist leider nur wenig Zeit, die Masse der interessierten Zuhörer hat auch die Luft im King Georg knapp werden lassen. Die Frage, was denn mit der durchaus wichtigen Arbeit sei, die von Menschen vermutlich nicht zur Selbstverwirklichung erledigt wird, ohne die aber ein gemeinsames Leben hier undenkbar wäre, kommt leider keine Antwort.

Lenz betont, Arbeit müsste doch eigentlich dazu führen, dass sich etwas verbessere. Das sei schon länger nicht mehr der Fall. Das mag für viele Berufe gelten, Reinigungskräfte oder Handwerker hat er dabei aber wohl nicht im Blick.

Das Kapitalismustribunal soll nicht zu den Regeln für ein „gutes Leben“ führen, wonach heute oftmals verlangt wird – offenbar wird das Haus Bartleby öfter nach einer Anleitung gefragt. Stattdessen soll ex–negativo definiert werden, was nie wieder passieren dürfe. Überhaupt merkt man, dass es einige gut gemeinte oder scheinbar gute Ansätze gibt, von denen sich das Haus Bartleby abgrenzen möchte. Work–Life–Balance oder der bessere Drehstuhl fürs Büro würden eben nicht genügen, so Lenz.

Interessante Gedanken regt an diesem Abend der Ausspruch eines unzufriedenen Besuchers an, der bereits nach einer halben Stunde den Ort verlässt: „Die Hipster klauen uns unser Lieblingsthema, und verdienen jetzt Geld damit!“

Kapitalismustribunal online: www.kapitalismustribunal.org

Haus Bartleby (Hrsg.): Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik. | Edition Nautilus | 160 S. | 14,90 €

Mario Müller

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