„Was genau war früher besser?“, fragt Michel Serres, der große alte Mann der französischen Philosophie. Einen „optimistischen Wutanfall“ bekommt er angesichts jenes derzeit beliebten Versuchs, sich nostalgisch in alte Zeiten zu kriechen, als alles noch irgendwie menschlicher zu sein schien. Serres zeigt schnell, dass die Schwärmerei nichts weiter als Rhetorik ist. Auch Harald Welzer, Deutschlands prominentester Soziologe, streift kurz den Blick in die Vergangenheit, als das Leben von Kindern und Frauen schlichtweg die Hölle sein konnte und erinnert daran, dass sich unser mitteleuropäisches Leben weitaus komfortabler als das des Sonnenkönigs Ludwig XIV. ausnimmt. Trotzdem trägt sein neues Buch den Titel „Alles könnte besser sein“. Und Welzer geht einen Schritt weiter als Serres, wenn er versichert, dass sein Buch positiv aber nicht optimistisch sei.
Sicher ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass es fraglos Fortschritt gab – schon alleine, um daraus den Mut zu schöpfen, die Situation zu verändern. Aber gelöst ist damit noch kein Problem. Zumal der Preis für das komfortable Leben im Westen von anderen Regionen der Welt bezahlt werden musste. Die Konsequenzen zeigen sich in weltweiten Flüchtlingsströmen, Klimawandel und einer Wirtschaft, die an unserem Fortleben nicht interessiert ist. An Informationen fehlt es uns nicht, aber wir ziehen aus ihnen keine Konsequenzen. Die Vernichtung von Wissen nennt man Blödheit – so etwa fühlt es sich derzeit an.
Welzer wandert Kapitel für Kapitel durch unsere Gegenwart, schaut, wie es um Institutionen, Wirtschaft, Migration, aber auch um Liebe, Freundlichkeit und Solidarität bestellt ist. Wobei der Verteilungsgerechtigkeit zentrale Bedeutung zukommt. Solange die kapitalistisch erwirtschafteten Gewinne so ausgeschüttet wurden, dass der Wohlstand aller stieg, stellte sich jenes Gemeinschaftsgefühl her, das eine Demokratie braucht. Genau das Urvertrauen, aus dem sich das Engagement für die Freiwillige Feuerwehr ebenso wie die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe speist, ist in Gefahr.
Hier ist eine Erosion entstanden, gegen die etwas unternommen werden muss. Welzer betont immer wieder, dass Umkehr und Korrektur möglich seien. Dazu muss man „die Energie des Angriffs wie beim Judo aufnehmen und in eine elegante Bewegung umleiten, die einem selbst Kraft verleiht. Wir haben viel zu lange geschlafen? Na, dann aber los!“, tönt er. Um die elegante Kehrtwende zu vollziehen, mahnt Welzer ein Narrativ an, dass der Veränderung eine gewisse „Sexyness“ verleiht. Als Nach-68er stehen ihm da gleich die Bilder der Hippies vor Augen. Aber es könnten ja auch die Kinder sein, die mit ihrer Bewegung „Fridays for Future“ einen Stein ins Rollen bringen. Ihre Mahnung bleibt uns beständig vor Augen: Wir haben die Verantwortung. Welzers konstruktiver aber kritischer Blick auf den Zustand unserer Gesellschaft drängt keine Antworten auf, sondern öffnet Türen für neue Optionen und versucht uns handlungsfähig zu machen. Ein Buch, das man sich unter den Arm klemmen kann und an dessen Ansätzen man die Zukunft wird messen können.
Harald Welzer: Alles könnte anders sein | S. Fischer | 320 Seiten | 22 Euro
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