Sie sitzt in einem Streifenwagen, trägt Handschellen. Ihr Rock und die Schuluniform sind mit Blutspuren übersät. Die 15-jährige Anais soll einen Polizisten ins Koma geprügelt haben. Sie selbst erinnert sich an nichts. Allerdings ist das Mädchen ohne Eltern einschlägig bekannt für Rauschgift- und Gewaltdelikte. Anais ist „Das Mädchen mit dem Haifischherz“ und Jenni Fagan, die Autorin dieses düsteren Romanjuwels sagt über Anais, „sie muss ein starkes Herz haben, angesichts der Tatsache, dass man sie für den Rest ihres Lebens einsperren will. Außerdem sind Haie schön“.
Mit der jungen Schottin und der aus Bonn stammenden, aber heute in Berlin lebenden, Stefanie de Velasco führte Moderatorin Ute Wegmann im Rahmen der lit.Cologne zwei Debütantinnen in einer Doppellesung zusammen. Wie selbstverständlich war der Saal im Museum für Angewandte Kunst am späten Nachmittag bis zum letzten Platz besetzt und im Publikum kursierte im Grunde nur die eine Frage: Welche der beiden Newcomerinnen hat das bessere Buch geschrieben? Denn während Jenni Fagan die beklemmende Geschichte eines Mädchens erzählt, das als Teil eines sozialen Experiments permanent überwacht wird – auf der Straße ebenso wie in der Badewanne – liefert Stefanie de Velasco mit ihrem Roman „Tigermilch“ die Geschichte einer innigen Mädchenfreundschaft.
Nini und Jameelah stromern unbemerkt von ihren Familien durch den Großstadtdschungel von Berlin. Sie tragen Ringelstrümpfe, die sie bis auf die Schenkel hinauf ziehen und gehen probeweise auf den Strich. Naivität, Sehnsucht, Coolness und eine große Portion moralische Aufrichtigkeit verbindet sie zu einem literarisch unwiderstehlichen Duo. Der Spaltpilz beginnt sich zu regen, als die beiden Zeuge eines sogenannten „Ehrenmordes“ werden. Stefanie de Velasco hat einen Roman von unglaublicher Dichte geschrieben, der raffiniert mit Motiven und Bildern spielt, voller Witz, frecher Dialoge und subtiler Reflexionen über Moral und Realität steckt. Jameelah lebt gerne in Deutschland, befindet sich aber in ständiger Angst davor, wieder in den Irak, wo sie geboren ist, abgeschoben zu werden. Ein Spannungselement, das dem Text zusätzliche Dynamik verleiht. Im Umfeld der Mädchen werden die Kriege im Nahen Osten und in Ex-Jugoslawien zum Thema und Stefanie de Velasco zeigt, wie ihre Auswirkungen längst auch Spuren in Deutschland hinterlassen haben. „Man denkt immer das sind die Probleme der Anderen. Aber das Negieren dieser Realität lässt hier die sozialen Konflikte erst eskalieren“, meint sie.
Im Zentrum des atmosphärisch meisterhaft erzählten Romans von Jenni Fagan steht die Frage nach der Macht und ihrem wichtigsten Instrument, der Kontrolle. Fagan gibt schon einmal einen Vorgeschmack auf die Konsequenzen, die uns die digitale Welt beschert, ohne sich mit sozialen Netzwerken überhaupt beschäftigen zu müssen. Für die Heldinnen beider Romane geht es darum, ein eigenes Leben zu finden und sich nicht in eine vorgegebene Identität zwingen zu lassen. „Mich hat interessiert, über jemanden zu schreiben, der ohne Hoffnung zu sein scheint“, erklärt Jenni Fagan, um dann zu zeigen, wie die Hoffnung doch wieder zu glühen beginnt. In faszinierende Leseerlebnisse verwandeln sich die Romane – deren Filmrechte schon verkauft sind - auch aufgrund des Mutes, den ihre Protagonistinnen beim Kampf für das aufbringen, was an Gefühlen und Überzeugungen in ihnen arbeitet. Die geschickte Moderation von Ute Wegmann holte viele der Ideen und Motive ans Licht, die den beiden Romanen ihren literarischen Wert verleihen. Und diese Lust, Texte aus wechselnden Perspektiven zu betrachten, schenkt einer Lesung erst so recht jenen Erlebnis-Kick, den man nicht mehr so schnell vergisst.
Jenni Fagan: Das Mädchen mit dem Haifischherz. Deutsch von Noemi von Alemann. Verlag Antje Kunstmann. 336 S., 19,95 €
Stefanie de Velasco: Tigermilch. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 288 S., 16,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Persönliche Antwort auf den Schmerz
Bettina Flitner auf der lit.Cologne – Lesung 03/22
Entgrenzende Bröckchen
Sasha Marianna Salzmann mit „Außer sich“ auf der lit.Cologne – Literatur 03/18
Schreibtisch mit Rheinblick
lit.Cologne: Niedecken über das Songschreiben – Musik 03/17
Absurditäten, die Solidarität verlangen
Deutsch-türkische Solidaritätsveranstaltung zur „Freiheit des Wortes“ auf der lit.Cologne – Spezial 03/17
Eine Fotografin wie es noch keine gab
William Boyds Roman „Die Fotografin“ – Literatur 03/16
Schnitt ins Herz
Peter Stamm stellt auf der lit.Cologne einen großen Roman vor – Literatur 03/16
Die Einsamkeit eines Kindes
Michael Köhlmeier auf der lit.Cologne mit einem kleinen, wuchtigen Roman – Literatur 03/16
Erotik im Dom
Die lit.Cologne weiß mit ihrer 16. Auflage zu überraschen – Textwelten 01/16
Nicht originell, aber substanziell
Deutsche Gegenwartsliteratur ist besser als ihr Ruf – Textwelten 04/15
Süße Liebe und ekelerregende Gemeinheit
Peggy Parnass kommt zur lit.kid.Cologne – Literatur in NRW 03/15
Amerikaner am Rhein
Die lit.Cologne verspricht ein starkes Programm – Textwelten 03/15
Je suis Michel
Houellebecq im Schauspiel Köln – Theaterleben 02/15
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25