Weihnachtszeit. Das ist die Zeit, in der Erwachsene auch einmal ein Bilderbuch kaufen, allerdings nur für ein Kind, das nicht älter als neun Jahre ist. In Deutschland glaubt man nämlich, dass Bilderbücher nur etwas für kleine Kinder sind. So verkam das Bilderbuch zum am meisten unterschätzten Bildmedium unserer Tage. Schade, denn auch Bilder sind Texte, die gelesen werden können. Und mit dem Bilderbuch in der Hand bietet sich die Gelegenheit, den Strom der visuellen Fluten für einen Moment anzuhalten, in Ruhe zu schauen, was uns die Bilder anzubieten haben. Eine Situation, die uns das Fernsehen freiwillig nicht offeriert.
Berührungsangst gegenüber Themen und Inhalten muss das Bilderbuch dabei nicht fürchten. „Denn man kann mit Kindern über alles sprechen, es kommt nur darauf an, wie man es macht“, behauptet Norman Junge, einer der renommiertesten deutschen Illustratoren. Darin besteht eben die Kunst der Illustration, den Dialog mit Kindern so intelligent zu führen, dass er den Erwachsenen ebenso unter die Haut geht wie den kleinen Lesern. Drei Meister der Bilderbuchillustration zeigen, wie man das macht, etwa Martin Baltscheit mit der „Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“. Alle Tricks kannte der Fuchs, lebte ein langes Leben voller Abenteuer und wurde von den Jungfüchsen entsprechend bewundert. Aber wir wissen, auf jeden Helden wartet bei Zeiten der Rollator. Der Fuchs beginnt, vergesslicher zu werden, irgendwann rast die Meute der Hunde auf ihn zu, und ihm erscheint ihr wütendes Bellen zwar bekannt, aber ihm will nicht mehr einfallen, woher er es kennt. Sehr spannend, visuell mit großer Finesse illustriert und wunderbar zärtlich trifft Baltscheit die Trauer und die Komik, mit der sich über Demenz sprechen lässt. Sein Buch lässt spüren, wie uns mit dem Nachdenken über das Vergessen auch das Erinnern wieder teuer wird.
Die beiden Norweger Stein Erik Lunde und Oyvind Torseter erzählen in ihrem Buch „Papas Arme sind ein Boot“ von einer Überlegung, die jedes Kind schon einmal angestellt hat. Was passiert mit mir, wenn meine Mutter nicht mehr da ist? Torseter erzählt die Geschichte anhand einer Papierlandschaft, die er baut und dann fotografiert. So entsteht eine eigene Welt, in der Licht und Details von Haus und Garten eine Atmosphäre erzeugen, in der die Gefühle zwischen den Worten greifbare Realität erhalten. Jedes gute Bilderbuch besitzt eine eigene visuelle Sprache, und das heißt auch, es fordert uns auf, das Erzählen in Bildern neu zu erfinden. Im Gegensatz zur raffinierten Papierarchitektur von Oyvind Torseter setzt sein Landsmann Stian Hole in „Garmans Sommer“ auf Bildcollagen, die so realistisch wirken, dass man in die abgebildeten Äpfel beißen möchte oder glaubt, über die Haut der Menschen streichen zu können. Das Körperliche spielt eine große Rolle in der Geschichte von Garman, der in diesem Sommer, bevor er in die Schule kommt, von seinen drei Tanten besucht wird. Beim Gedanken an die Schule beschleicht ihn ein mulmiges Gefühl, aber er erfährt, dass jeder Mensch die Angst kennt, sie sieht nur bei jedem anders aus. Der Körper, seine Alterungsprozesse werden mit geschicktem Realismus in die Sommerwelt integriert. Bilder und Story dieses Buches vergisst man nie mehr, aber darin besteht ja auch der Ehrgeiz der Illustratoren, mit jedem Buch eine neue Tür zur Welt zu öffnen.
Martin Baltscheit: Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor. Bloomsbury. 13,90 €
Stein Erik Lunde/Oyvind Torseter: Papas Arme sind ein Boot. Gerstenberg Verlag. 12,95 €
Stian Hole: Garmans Sommer. Hanser Verlag. 14,90 €
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