Die Aufnahme ist innerhalb kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Beispiele zeitgenössischer politischer Ikonographie avanciert: Am 2. Mai 2011 veröffentlichte das Weiße Haus ein Foto aus dem Situation Room. Da sitzt der Inner Circle der amerikanischen Macht von Präsident Barack Obama über Außenministerin Hillary Clinton bis zu General Marshall B. Webb im Halbkreis an einem Tisch und verfolgt gebannt in Echtzeit die Tötung Osama Bin Ladens im pakistanischen Abbottabad. Wenn Rimini Protokoll ihre neue Arbeit „Situation Rooms“, mit entscheidendem Plural-S, bei der Ruhrtriennale vorstellen, dann geht es allerdings nicht um eine Kritik politischer Macht, um Terrorismus und seine gesetzlichen und digitalen Kollateralschäden. Die Performancegruppe widmet sich der ethisch vermeintlich abgegrasten Frage des internationalen Waffenhandels. Sind wir uns da nicht längst alle einig?
In einem Anbau der Jahrhunderthalle in Bochum ist ein geschlossener Rundbau installiert, der in seinem Innern zahlreiche, miteinander verbundene Räume besitzt. Der Zuschauer wird mit einem iPad mit Griff und Kopfhörer versehen in den Parcours eingeschleust. Auf dem Bildschirm erklären zehn Personen, vom Waffentechniker über den Menschenrechtsanwalt bis zum Kriegsfotografen, ihre Anliegen und geben dem Besucher freundlich Anweisungen, was als nächstes zu tun sei. Diese Statements sind mit subjektiver Kamera gefilmt (Video: Chris Kondek), so dass der Zuschauer den Blick dieser Personen übernimmt. Damit löst Rimini Protokoll das traditionelle Gegenüber von Spielenden und Schauenden völlig auf und zwingt den Besucher, sich die virtuellen Figuren anzuverwandeln. Da blickt man mit einem ehemaligen israelischen Scharfschützen von einem Balkon auf eine Skyline, baut nebenan mit einem deutschen Friedensaktivisten am Modell der Waffenfabrik Heckler & Koch oder kommt in ein Lazarett von Ärzte ohne Grenzen in Syrien. Man geht von Raum zu Raum und wechselt mühelos Identitäten und Kontinente. Die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander des globalen Raums wird physisch erfahrbar gemacht, mithilfe des architektonischen Labyrinths aus miteinander verbundenen Räumen (Bühne: Dominic Huber/blendwerk), in denen man schnell die Orientierung verliert. Nicht nur geographisch, sondern auch ethisch. Der Informationsoverkill der unterschiedlichen, in sich schlüssigen Haltungen, vom Arzt bis zum Kindersoldaten, lässt jede eindeutige Haltung verschwimmen. Und je länger man diesem „Multiplayer Video-Stück“, wie es im Untertitel heißt, folgt, desto weniger scheint es überhaupt um Waffen zu gehen.
Was Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi hier inszenieren, ist eine Welt am digitalen Draht mit dem Besucher als Theatralmarionette. Man nimmt sich selbst als ferngesteuerten Zombie wahr, der je länger, desto mehr dem Raum auf seinem Bildschirm vertraut als dem Theaterraum: Da müsste jetzt ein Schalter in der Wand sein, doch da ist keiner. Man sucht so lange, bis die Vorgaben der virtuellen Realität erfüllt sind – denn sie sind es, die einzig Orientierung garantieren. Die physische Raumerfahrung verkümmert zum Wahrnehmungsappendix, der nur noch dem ungestörten, stolperfreien Fortkommen dient. Und nie lässt sich der Gedanke ganz abschütteln, dass irgendwo ein großes Auge über einen wacht: Die Theatralmacht Rimini Protokoll, die in ihrem Situation Room alles im Griff hat. Denn schließlich steht und fällt die komplexe logistische Struktur damit, dass alle Besucher (20 pro Durchgang) sich sklavisch an die Vorgaben halten, weil man sich ständig begegnet, sich die Hand schüttelt, Dinge platziert, die der andere dann „weiterverarbeitet“. Es ist dieses Spiel mit der Wahrnehmung, das den Abend letztlich so beeindruckend macht.
„Situation Rooms“ I Termine noch bis 15.9, jeweils 15, 17, 19 und 21 Uhr I Ruhrtriennale I 0221 280 210
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