Wie fixiert man das Lebensgefühl einer Epoche? Wir alle möchten das Chaos des realen Alltags einmal von außen betrachtet sehen, so dass uns unsere Erfahrung verdichtet vor Augen treten kann. Es macht den Reiz zeitgenössischer Literatur aus, als Leser das Aroma der Gegenwart schmecken zu dürfen. Im neuen Roman der Wienerin Eva Menasse bietet sich eine köstliche Gelegenheit für eine Konfrontation mit den Eitelkeiten und Freuden, aber auch mit den bitteren Wahrheiten, die unser gesellschaftliches Leben heute prägen. „Wer sind wir, und wie werden wir gesehen?“ Diese Frage stellt für Menasse das Zentrum ihres Romans „Quasikristalle“ dar.
13 Personen gruppieren sich um den einen Kristall, ihre Zentralfigur, Roxane. Eine Frau, deren Lebensweg aus der Perspektive ihrer Schulfreundin, ihrer Stieftochter, ihres Vermieters, der besten Freundin, eines Liebhabers, flüchtiger Bekannter oder der Ärzte beschrieben wird. „Immer verwechselt man den eigenen Blick mit dem der anderen“, erklärt Eva Menasse im Werkstattgespräch mit dem klug agierenden Literaturwissenschaftler Christian Schärf im Belgischen Haus, in das die lit.COLOGNE geladen hatte. Und weil wir gerne glauben, dass die anderen die Welt genauso wahrnehmen wie wir, entwickelt sich der Roman zu einem Resonanzraum, in dem die vielen Stimmen zu einem Kaleidoskop menschlicher Erfahrung vereinigt werden.
Jedes Kapitel entpuppt sich als eine Erzählung, die das Leben von der Schulzeit über die Ehejahre bis zum Sterben mit dem Aroma der je eigenen Lebensphase abschmeckt. Dass sich die Bruchstücke der Persönlichkeit von Xane – wie sie von ihren Freundinnen genannt wird – nicht zu einem makellos runden Bild schließen, erweist sich als Glück für die Leser. Eva Menasse verteidigte ihren Roman entschlossen gegen erst kritische Rezensentenstimmen, die ihre Prosa in die Nähe eines Illustrierten-Stils rücken wollten. Eine Attacke, die nicht wirklich trifft, weil der Ton der Dialoge unsere alltäglichen Sprachgewohnheiten treffend aufnimmt und realistisch wiedergibt.
Die Wienerin bietet fein konstruierte Szenen und eine Kapitelstruktur, die sich wie eine Zimmerflucht ausnimmt, die mit jedem Schritt über die Schwelle eines neuen Raums ein Abenteuer verheißt. Diese Momente, wenn die beste Freundin über eine Affäre nachdenkt, der Vater seine Tochter neu zu entdecken beginnt, der vermeintliche Liebhaber die Atmosphäre erschnuppert, bilden mit ihrer untergründigen Sinnlichkeit den Antrieb, der den Leser zielsicher das Finale des Romans ansteuern lässt.
Genaue Beobachtung, die das Schicksal der Heldin in ein Vexierbild weiblicher Existenz in unserer Epoche verwandelt, kann mit erfrischender Leichtigkeit einhergehen. „Jeder spielt Rollen, jeden Tag, und wir spüren das auch“, erklärt Eva Menasse. Was sich da so mühelos im Spiel der Perspektiven entwickelt, ist das Ergebnis eines knochenharten Arbeitsprozesses, wie die 43Jährige erklärt. Jedes Mal, wenn sie sich an den Schreibtisch setzt, um ihr Projekt fortzuschreiben, liest sie das zuvor Geschriebene und beginnt es sofort umzuarbeiten. Ein quälend langsamer Prozess für die Autorin, der jedoch eine elegant durchpulste Prosa gebiert. Zunehmend kühner wird Menasse über dem Schreiben, und sie verrät, dass sie „immer mehr die Lücke interessiert“, die sich im Erzählten auftut. „Was kann man weglassen und wie kann der Autor den Leser dazu zwingen, sich das Fehlende zu denken“, das sind ihre Herausforderungen. Ihr Publikum im Belgischen Haus, das sich zum großen Teil aus Leserinnen zusammensetzt, folgte aufmerksam Eva Menasses Bericht aus der Schreibwerkstatt, in dessen Verlauf viel gelacht wurde. Es sind zumeist die männlichen Figuren ihres Romans, über die die Zuhörerinnen schmunzeln. Eva Menasse weiß sie sensibel, aber eben auch mit Humor zu beschreiben.
Eva Menasse: Quasikristalle | Kiepenheuer & Witsch | 430 Seiten, 19,99 Euro
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