Es hat sie gegeben, die Guttenberg-Galaxis. In prächtigen Schlössern, so genannten Residenzen, fristete sie ihr Dasein. Dort spielten unter mit Blattgold versehenen Decken die großen Komponisten ihrer Zeit in kammermusikalischen Formationen. Franz Danzi, Antonio Rosetti, Joseph Haydn oder ein junger Wolfgang Amadeus Mozart. Sie alle teilten nicht nur eine besondere Kompositionsgabe, sondern auch den Habitus, die Melodie des Kollegen kommentar- und kostenlos zu übernehmen, um daraus ihre eigenen Variationen zu machen.
Das Plagiieren als kreative Praxis erhielt erst zum Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt gesetzliche Schranken. Bis dahin wanderten mit den Notenblättern auch die Ideen der Musiker in die neuen Stücke hörbar hinein. Die Tage Alter Musik in Herne, die sich bei ihrer 37. Auflage dem Dekalog der zehn Gebote widmen, thematisierten mit dieser Phase zwischen Barock und Frühklassik das Gebot „Du sollst nicht stehlen“.
Präzisionsarbeit
Unter der Leitung des Duisburgers Christian Binde spielte das internationale Ensemble „Compagnia di Punto“ Instrumentalmusik und Opernarien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Sopranistin Rafaella Milanesi rundete das überzeugende Ensemble an diesem Tag ab. Ihr gelang eine harmonische Anpassung der explosiven Mozart-Arien an das - im Vergleich zum Orchester − reduzierte Klangvolumen ihrer Musiker. An Gestus und Mimik sah man der gebürtigen Römerin aber die Nähe und Liebe zur Oper an.
Bis auf ein fragwürdiges theatralisches Intermezzo nach der Pause fielen die schauspielerischen Einlagen an diesem Abend nicht unangenehm auf. Beachtlich war vielmehr die Präzisionsarbeit, mit der die Compagnia di Punto die Nuancen in den alten Kompositionen hervorspielte. Sei es in Antonio Rosettis „Marche, Maestoso“, das in vielen Passagen an Mozarts Ouvertüre zur „Hochzeit des Figarro“ erinnert, oder in den beiden Versionen von Haydns Divertimento-Menuett in D-Dur − die minutiöse Arbeit am Werk offenbarte sich mit forciert gespielten Passagen, die sonst in der Melodie verschütt gehen könnten.
Musikerfamilie Bach
Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, wurde vom Münchener Ensemble „Lyriarte“ behandelt. Hier nahm man die Musikerfamilie par excellence – die Bachs. Zum Vater muss man nicht viele Worte verlieren, die Mutter Sopranistin, vier von fünf Kindern wurden Komponisten, der Ausreißer galt Johann Sebastian Bach als moralisch „missraten“.
Lyriarte ist für seine vielschichtigen Barock-Interpretationen bekannt. Am Donnerstagabend in der gut gefüllten Herner Kreuzkirche spielte das Ensemble um Rüdiger Lotter und Olga Watts die Werke der vier musikalischen Söhne, nicht zuletzt auch des Vaters selbst. Dabei gelang es ihnen zu zeigen, dass nicht jeder Bach dem Vater treu blieb, sondern auch eigene Wege beschritt, die bis hin zu frühromantischen Sonaten führten, wie bei Carl Philipp Emanuel Bach. Wer weiß, wie häufig die Söhne sich am gedanklichen Eigentum gegenseitig vergriffen? Wäre die Guttenberg-Galaxis im Familienkreis Bachs dann intellektueller Inzest?
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