In den Fotografien von Aenne Biermann geht es um den genauen Blick. Das wird geradezu kongenial in der Hängung im Museum Ludwig deutlich: Einige Aufnahmen sind mehrfach nebeneinander zu sehen, lediglich variiert im Randbeschnitt oder in den Helligkeiten von Schwarz und Weiß, eben so wie sie vor rund neunzig Jahren von Aenne Biermann abgezogen wurden. Und in einer Koje am Anfang der Ausstellung wird ein Video gezeigt, in dem Biermanns berühmter Bildband von 1930 Seite für Seite umgeblättert wird. Im Kontinuierlichen dieses Vorgangs steckt etwas Beharrliches, Aufmerksames – und das kennzeichnet ja die Fotografien selbst.
Die Anerkennung als Fotografin hat Biermann noch erlebt, obwohl sie früh gestorben ist. Sie wurde 1898 in Goch geboren, sie stammt aus einer jüdischen Fabrikantenfamilie. 1920 heiratet sie und zieht zu ihrem Ehemann nach Gera. Zur Fotografie kommt sie als Autodidaktin. Nachdem sie sich über das Fotografieren für's Familienalbum die Technik angeeignet hat, wendet sie sich in den späten 1920er Jahren der sachlichen Detailaufnahme alltäglicher Dinge und Pflanzen zu. Damit findet sie sich in der Avantgardeströmung des „Neuen Sehens“ wieder. Sie arrangiert vertraute Situationen zu exakt komponierten Stillleben. Ab 1930 finden größere Ausstellungen dieser Fotografien statt und sie wird zu den wichtigen Überblicksausstellungen in Deutschland eingeladen wie der Werkbund-Ausstellung „Film und Foto“. 1930 erscheint ein eigener Bildband in der „Reihe Junge Kunst“, der von dem führenden Kunsthistoriker Franz Roh eingeleitet wird und ihr Werk weiter verbreitet.
Aenne Biermann nimmt Porträts auf, auch von sich selbst und von Kindern und Kindergruppen; selbst ist sie Mutter von zwei Kindern. Weiterhin fotografiert sie Landschaften und fokussiert die Natur mit ihrem Blattwerk. In ihrer Akkuratheit lassen sie an die Stillleben denken. 1932 wird sie in die Gesellschaft Deutscher Lichtbildner berufen. Aber bereits 1933 stirbt sie an einem Leberleiden, kurz bevor die Nazis an die Macht kommen. Ihre jüdische Familie kann fliehen, über Umwege gelangt ihr Negativarchiv wieder nach Deutschland und ist seitdem verschollen. Umso wertvoller sind die Aufnahmen, die über die das Agfa Firmenarchiv erhalten blieben. Zudem konnte das Museum Ludwig kürzlich vier Fotografien dazukaufen.
Biermann war auch ihre eigene Theoretikerin. „Bis zum Jahr 1927 beschäftigte ich mich sozusagen mit der vagabundierenden Photographie; das soll heißen, dass sie lediglich für mich den Zweck hatte, Erinnerungswerte festzuhalten“, hat sie über ihre Fotografie geschrieben. „Ich erkannte immer mehr, dass die Frage der Beleuchtung für die Klarheit der Darstellung von entscheidender Bedeutung war.“ Und sie schließt: „Das einzelne Objekt, das innerhalb seiner Umgebung niemals aus dem Kreis der vertrauten Erscheinung herausfiel, gewann auf der Mattscheibe ein ureigenes Leben.“
Damit hat sie 1929 ihr Programm der neusachlichen Fotografie, des „Neuen Sehens“, definiert – die Ausstellung im Museum Ludwig belegt es nun aufs Feinste. Für Biermann wird schon ein Aschenbecher zum Anlass zu einem Arrangement, bei dem der aufgerichtete Stummel, Streichhölzer und Asche zusammenwirken. Etliche ihrer Aufnahmen kommen aus der Küche: Um eine Kartoffel kräuselt sich spiralig die geschälte Rinde; das Messer ist noch angelegt. Vier Äpfel sind in einer Schale mit ihrem Stiel unterschiedlich ausgerichtet. Wichtig ist immer das Verhältnis der Dinge zum Bildausschnitt. Das setzt sich bei den Strandszenen fort, etwa wenn eine Frau und ein Mann schlafend im Sand liegen. Aenne Biermann klärt Verhältnisse, sie arbeitet mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast, setzt Diagonalen und staffelt analoge Formen, so dass die Bildfläche in Spannung versetzt wird. Und so wird aus dieser überschaubaren Ausstellung mit ihren kleinen Formaten und zwei Vitrinen ein anregendes, intensives Ereignis, das gerade in reizüberfluteten Zeiten dem Sehen gut tut. Ein Kapitel in der Geschichte der Fotografie ist es sowieso.
Name der Fotografin: Aenne Biermann | bis 30.9. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
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