Die Familie ist das, was angesichts eines Anteils von 55 Prozent Single-Haushalten als Lebensform sichtbar zurückgeht. Aber eine Alternative zeichnet sich auch nicht ab, die Sehnsucht nach familiärem Zusammenhalt wird also nicht kleiner werden. Ein ideales Sujet für die Literatur, obwohl dort der Familienroman vor allem zum Medium der Vergangenheitsbewältigung wird. Wir finden eine Kiste auf dem Dachboden und fragen erstaunt: Opa Friedrich war ein Nazi? So ähnlich beginnt Per Leos „Flut und Boden“, einer der faszinierendsten Romane dieses Frühjahrs. Per Leo gehört zur mittlere Generation der 40- und 50-jährigen deutschen Autoren, deren Bücher gekauft und gelesen werden. Keine „Betroffenheitsprosa“, sondern es wird erzählt, konkret und traditionsbewusst zugleich.
So forscht Per Leo in „Flut und Boden“ nach den Wurzeln einer großbürgerlichen Familie von der Weser, die in die Verbrechen des Nationalsozialismus tief verstrickt ist. Zwei Brüder begegnen uns, Martin, der Humanist, und Friedrich, der unter den Nazis mit seinen Vorstellungen von Rassenhygiene schnell Karriere machte. Ein Roman, der durch seine erzählerische Eleganz beeindruckt und der den Fragen nach individueller Schuld unerwartete Wendungen zu geben vermag. Dichte familiäre Szenen wechseln ab mit Charakterbildern und stets weht ein belebender Ton des Spotts durch diese Prosa.
Das Sujet des Familienromans feiert sein Comeback in diversen Spielarten. So erhält Saša Stanišić in Leipzig den Deutschen Buchpreis für seinen Roman „Vor dem Fest“, dem die Kritik einhelligen Jubel zuteilwerden lässt. Der 36-jährige Stanišić entfaltet das idyllische Panorama eines Dorfes in der Uckermark. Mit einer wunderbaren Komik, die immer wieder das Absurde streift, beschreibt der Roman, wie die dörfliche Großfamilie in einem mythischen Fest den Schatten ihrer Vergangenheit begegnet. Auch hier erzählt eine Generation, die nicht mehr die Rebellion der 68er in sich spürt, die keine Rechnungen mit den Vätern begleicht, sondern vielmehr mit Interesse auf die moralischen Verstrickungen der Großväter blickt. Eine Generation, die weit weniger mit sich beschäftigt ist, und daher unbefangener als ihre Vorgänger Geschichten von vorgestern rekonstruiert, ohne das Todesurteil der Verachtung über ihre Ahnen sprechen zu müssen.
Um Schuld geht es aber gleichwohl in Uwe Kolbes lange erwartetem Roman „Die Lüge“, der im Milieu der Bohèmiens und „Kulturschaffenden“ der DDR spielt. Der Sohn, ein erfolgreicher Komponist, nimmt Kontakt zu seinem Vater auf, von dem er lange getrennt war. Karriere und Liebschaften von Vater und Sohn verflechten sich, wobei der Sohn als Erzähler schnell die Sympathien auf sich zieht. Aber ist er nicht doch vielleicht ein aalglatter Opportunist? Der mit Misstrauen beäugte Vater, der einmal Einfluss im Staatsapparat besaß: Ist der möglicherweise die charaktervollere Persönlichkeit? Uwe Kolbe erzählt mit großer Raffinesse einen Familienroman, in dem Verrat zur Methode wird.
Die stilistisch eindrucksvollste Auseinandersetzung mit der Familie bietet in diesem Frühjahr Reinhard Kaiser-Mühlecker mit „Schwarzer Flieder“. Ferdinand Goldberger verlässt den Hof seiner Familie, um in Wien schnell Karriere als Fachmann für Landwirtschaftsfragen zu machen. Zufällig begegnet er seiner ehemaligen Freundin und verliebt sich erneut in sie. Durch ein tragisches Geschehnis verliert er jedoch sein persönliches Glück und kommt zurück auf den Hof der Familie, wo eine Konfrontation mit der familiären Vergangenheit einsetzt, die in einer verheerende Zerstörungswut mündet. Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt mit einer zwingenden Konsequenz, die einen beim Lesen in einen Sog zieht, dem nicht zu entkommen ist. Der leicht altmodische Erzählton erinnert von Ferne an die Romane eines Adalbert Stifter, und ähnlich dicht ist das Netz seiner Psychologie geknüpft, das jedoch nur unterschwellig spürbar wird, weil Handeln und Fühlen vollkommen miteinander verschmelzen.
Der Familienroman bewährt sich, weil in den Händen von vier derartig talentierten Autoren Privates und Gesellschaftliches treffend entflochten wird und dabei Panoramen des späten 20. Jahrhunderts entstehen, wie man sie lange nicht mehr für möglich halten durfte.
Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Klett-Cotta, 350 S., 21,95 €
Saša Stanišić: Vor dem Fest. Luchterhand, 318 S., 19,99 €
Uwe Kolbe: Die Lüge. S. Fischer, 384 S., 21,99 €
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Schwarzer Flieder. Hoffmann & Campe, 338 S., 19,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die schönen Verrückten
Markus Gasser über Liebe in berühmter Literatur – Textwelten 07/19
Lichtschalter anklicken
Warum wir das Bücherlesen verlernen – Textwelten 06/19
Die Hölle der Liebe
Julian Barnes schreibt sein bitterstes und bestes Buch – Textwelten 04/19
Eine begnadete Unverschämtheit
Der neu gegründete Kampa Verlag präsentiert Simenon – Textwelten 11/18
Erinnerung ohne Schmerz
Rachel Cusks dichte Prosa im Kleid spontaner Konversation – Textwelten 09/18
Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18
Zwischen Herz und Verstand
Ruth Klüger bietet direkten Zugang zur die Welt der Lyrik – Textwelten 04/18
Unheimlich schönes Dorfleben
Ein Roman von Jon McGregor, funktioniert wie fünf Fernsehserien auf einmal – Textwelten 03/18
Demütigung
Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17
Ein notwendiger Roman
Affinity Konar überrascht mit ihrem Meisterwerk „Mischling“ – Textwelten 09/17
Liebe am Mittag
Graham Swift zeigt uns, wie Literatur funktioniert – Textwelten 08/17
Über Nacht zum Begriff geworden
Köln erlangt Berühmtheit, nur anders als erhofft – Textwelten 03/16
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25