Beirut in den 80er Jahren: Eine illustre Gesellschaft versammelt sich in einem Wohnungsflur und wartet auf die Eltern zweier Kinder, während draußen die Granaten detonieren. Zeina Abirached erzählt mit dem autobiografischen Band „Das Spiel der Schwalben“ vom Alltag im Bürgerkrieg, von der Normalität im Irrsinn. Ihre kontrastreichen Zeichnungen sind flächig und ornamental und haben ihr bereits mehrfach Vergleiche mit Marjane Satrapis „Persepolis“ eingebracht (avant verlag). Li Kunwu erzählt in „Ein Leben in China“ zusammen mit Philippe Otié seine Familiengeschichte von der Machtergreifung Maos bis zur Gegenwart. Hatte der erste Band „Die Zeit meines Vaters“ die Regierungszeit Maos abgedeckt, folgt mit „Die Zeit der Partei“ die Phase der Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft nach Maos Tod 1976. Li ist zunächst orientierungslos und wird schließlich Zeichner von Propagandaplakaten. Die groben, fast wilden Zeichnungen unterstreichen die von Unsicherheit und Restriktion geprägte Stimmung. Im Herbst erscheint der abschließende Band „Die Zeit des Geldes“ (Edition Moderne). Und ein drittes Mal Politik und Geschichte im Comic: Auch Marzena Sowa berichtet von ihrer Kindheit. Sie ist in den 80er Jahren in Polen aufgewachsen, hat das Erstarken von Solidarność miterlebt, die Verhängung des Kriegsrechts und schließlich die Demokratisierung des Landes. Mit Kinderaugen blickt sie in „Marzi – Eine Kindheit in Polen“ auf die Ereignisse, die ihr Lebenspartner Sylvain Savoia in farbigen Zeichnungen mit mangaesker Hauptfigur auf tragikomische Art umsetzt. Nach dem ersten Band „1984 – 87“ folgt nun die Fortsetzung „1989“ mit der Aufhebung des Kriegsrechts und den ersten freien Wahlen (Pannini).
Nach „Trommelfels“ bestätigt Marijpol mit „Eremit“ ihre Sonderstellung als Künstlerin: Sie entfaltet ein fantastisches Szenario einer überalterten Gesellschaft, in der die wenigen Kinder wie Kaiser hofiert werden. Die Alten dürfen sich im Gegenzug einen schönen Tod im Reisebüro bestellen. Ein Eremit stellt ihnen kurz zuvor die Gewissensfrage, ob sie es ernst meinen. Zweifel habe die Kandidaten selten, der Eremit hingegen wird schon sein ganzes Leben vom Zweifel gepeinigt, dass sich gar sein Kopf spaltet. Als ein Alter sich dem Tod verweigert und ein Kind der Behütung entflieht, gibt es auch für den Eremiten eine Chance auf inneren Frieden. Faszinierend, symbolhaft und brutal (avant verlag). Letzterem steht „Die Insel der 100.000 Toten“ in nichts nach. Fabien Vehlmann erzählt von einem Mädchen, das seinen Vater sucht und dabei auf einer Pirateninsel mit einer Schule für angehende Henker landet. Die Kombination aus niedlich-naiv und abgeklärt-brutal ist so überraschend wie erschütternd. Jason, der hier erstmals mit einem Autor zusammenarbeitet, liefert dazu seine schlichten Farbzeichnungen (Reprodukt).
Brutal, aber in echt: Derf Backderf war zu Schulzeiten ein Freund von Jeffrey Dahmer. Dahmer erlangte später traurige Berühmtheit, weil er zwischen 1978 und 1991 17 Menschen ermordete und teils verspeiste. In „Mein Freund Dahmer“ blickt Backderf auf die gemeinsame Schulzeit zurück und schildert einen vernachlässigten, einsamen Jungen, der früh abnorme Interessen entwickelt. Backderfs karikaturhafter Zeichenstil steht weder der Tragik noch dem Grauen im Weg (Metrolit).
Der Mai ist Comic-Monat: Am 4.5. ist in Köln-Mülheim wieder die Comicmesse Intercomic. Und am 11.5. ist Gratis Comic Tag mit vielen kostenlosen Sonderheften der deutschen Verlage und Aktionen in den Kölner Comicläden, darunter der Fantastic Store im Cöln Comic Haus in der Südstadt.
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