Michel Serres, der Philosoph der Verschmelzung, der uns lehrt, den Sinnen ebenso zu vertrauen, wie dem Geist, erhält den Meister Eckart Preis. Die Universität zu Köln und die Identity Foundation verleihen diesen mit 50.000 Euro dotierten Preis, mit dem in der Vergangenheit hochkarätige Wissenschaftler wie Richard Rorty und Claude Levi-Strauss ausgezeichnet wurden. Eine Entscheidung, die einen wichtigen Akzent in der ehemals konservativen Tradition des Philosophischen Seminars in Köln setzt. Hier, wo man über Jahrzehnte die strikte Trennung zwischen Körper und Geist lehrte, erhält nun mit dem 80-jährigen Franzosen ein Denker diese Würdigung, der uns dazu anhält, unmittelbares Vertrauen in unsere Sinne zu entwickeln. Für den sich sich unser Gedächtnis in die Haut „eingräbt“. Der die Sprache genau analysiert und deshalb vor ihrer Wirkung warnt: „Das Wort erfüllt das Fleisch, und betäubt es“, erklärt Serres.
Für den heute in den USA lehrenden Serres sind die Sinnesorgane ein Teil des Denkapparates. Eine Erkenntnis, die er formulierte, lange bevor die Neurologie uns die empirischen Daten dazu lieferte. In Köln betont man die Geistesverwandtschaft von Michel Serres mit Meister Eckart, dem Namensgeber des Preises, der 1213 von Paris nach Köln übersiedelte. Der dem Dominikanerorden zugehörige Theologe lehrte in Köln jene skandalöse These, die besagt, dass der Seelengrund des Menschen nicht erst von Gott geschaffen wurde, sondern dass er immer schon unmittelbar anwesend sei. Das brachte Eckart vor die Tribunale der Inquisition.
Serres besitzt ein großartiges erzählerisches Talent, mit dem er Werke wie „Der Parasit“ oder „Die fünf Sinne“ in unvergleichliche Reflexionen über die menschliche Wahrnehmung verwandelte. In Köln betont er denn auch, dass seine Vorstellung von einer Universität der Zukunft darin besteht, „dass die Studenten gleich im ersten Semester die Geschichte der Menschheit erzählt bekommen. Es sollte einer erzählerische Form der Lehre geben“. Serres, der Meister des interdisziplinären Denkens, stellt sich darunter eine Universalgeschichte vor, in der von Urknall bis in unsere Gegenwart die Erkennisse der Einzelwissenschaften, wie etwa der Astronomie, der Biologie, der Anthropologie miteinander verschmolzen werden.
Eine Verschmelzung wünscht er sich auch für Deutsche und Franzosen, wie er in seiner Dankesrede betont. „Mit den neuen Technologien ist es möglich, dass Rheinländer und Bretonen, Elsässer und Bayern miteinander sprechen, ohne dass eine Institution dazwischen geschaltet ist.“ So wäre es möglich, „dass Deutsche und Franzosen direkt ihre Stimme erheben.“ Eine Situation, die eine Vermischung der Völker mit sich bringt, wie sie für Serres Denken exemplarischer nicht sein könnte.
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