Darf man über den Schrecken fantasieren? Ja, wenn man ihn selbst erlebt hat. So jedenfalls hat man es in Deutschland bisher mit der Literatur gehalten, deren Sujet der Holocaust ist. Den Historikern überließ man das Feld der Forschung, zumal die Literatur jener Autoren, die die Lager überlebten, zu den eindrucksvollsten Texten gehört, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Als Imre Kertész 2002 den Nobelpreis erhielt, galt diese Auszeichnung auch als Anerkennung für all jene, die vor ihm über das mörderische Inferno aus eigener Anschauung geschrieben hatten.
Jerzy Kosinski war dabei. Seine polnisch-jüdischen Eltern versteckten ihr Kind bei einer katholischen Familie. 1965 erschien sein Roman „Der bemalte Vogel“ in den USA und erlebte weltweit eine Millionenauflage. Der Arche Verlag bietet das seit vielen Jahren vergriffene Buch jetzt in seiner von Dennis Scheck betreuten Reihe wieder an. Kosinski erzählt konsequent aus der Perspektive eines Jungen, der in polnischen Dörfern Unterschlupf vor den deutschen Besatzern sucht, aber die Bauern fast ebenso fürchten muss wie die Soldaten der Wehrmacht. Immer wieder wird er von der brutalen Landbevölkerung gequält und verjagt. Das Buch nimmt sich wie eine in leicht naivem Ton erzählte Odyssee des Schreckens aus, die von tobender Gewalt und sadistischen Schändungen getränkt ist.
Der Junge verstummt, findet aber letztlich die Eltern und seine Sprache wieder. Kosinski hält den Erzählstrom atemlos in Gang, dazu musste er auch Material verarbeiten, das sich nicht auf eigenes Erleben stützte, sondern ihm von Freunden zugetragen wurde. Später wurde Kosinski, der sich 1991 in New York das Leben nahm, dafür scharf kritisiert und seinem Roman die Authentizität abgesprochen.
Die Aufgabe der Literatur besteht jedoch nicht darin, historische Beweisführungen vorzulegen. Kosinkis Buch liest sich wie ein Trip in die Abgründe des Bösen, der zeigt, wozu Menschen in der Lage sind, wenn jegliche Ordnungsmacht außer Kraft gesetzt ist und die rohe Triebhaftigkeit hervorbricht. Wer Kosinskis Roman gelesen hat, wundert sich nicht mehr über die viehische Gewalt der U-Bahn-Schläger unserer Tage.
Zeitzeugen des Krieges wird es bald keine mehr geben, dann werden alle dokumentierten Ereignisse nur noch vermittelte Geschehnisse sein. Die folgenden Generationen werden sich in die Vergangenheit hineindenken und -fühlen müssen, um die Vorgeschichte ihrer Gegenwart verstehen zu können. Einen Roman, der auf den Dokumenten des Ghettos von Lodź beruht, präsentiert jetzt der Schwede Steve Sem-Sandberg unter dem Titel „Die Elenden von Lodź“. Er erzählt von Chaim Rumkowski, einer Gestalt, in der sich alle Widersprüche der Zeit vereinigen. Als Vorsitzender des Judenrates und Vorsteher des Waisenhauses setzte Rumkowski in vorauseilendem Gehorsam alle Anweisungen der SS mit harter Hand im Ghetto durch. Die Frage, ob er damit zumindest partiell zum Retter für die Insassen des Ghettos hätte werden können, sei dahingestellt. Rumkowski schickte die Kinder ins Gas, und wenn man dem Roman folgt, dann vergewaltigte er Frauen und Kinder.
Sem-Sandberg entwirft eine ganze Welt. Mit großer Umsicht hält er die Schicksalsfäden unzähliger Figuren in der Hand. Er besitzt den Blick für realistische Details und behält zugleich das Panorama im Auge. Ein unglaublicher Erzähler, der virtuos demonstriert, dass die Arbeit des Schriftstellers dort beginnt, wo der Historiker an seine Grenzen stößt. Was ging in den Menschen vor? Das ist es, was die Literatur auch in Zukunft beschäftigen wird. Dieser Roman muss das Böse nicht dämonisieren, man bekommt eine klare Vorstellung davon, dass das Böse darin besteht, anderen Menschen die Tatsache abzusprechen, dass sie Menschen sind. Ist das einmal geschehen, ist alles möglich.
Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel. Arche Paradies. 352 S., 19,90 €
Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lodź. Klett-Cotta. 652 S., 26,95 €
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