Kaum jemandem in unserer Gesellschaft brandet so viel Zorn entgegen wie den Schiedsrichtern. In einer Zeit, die von Medien geprägt wird, die pubertärer Besserwisserei breiten Raum eröffnen, müssen die schwarz gekleideten Vaterfiguren, denen der strenge Blick zur zweiten Natur geworden ist, zwangsläufig zur Reizfigur erkoren werden. Aber wie muss jemand gestrickt sein, der da mitmachen will? Christoph Schröder, seit 27 Jahren Mitglied der Schiedsrichtergilde, erklärt uns in seinem Buch „Ich Pfeife!“ wie es dazu kommen konnte. Ganz einfach, die Schiedsrichter rekrutieren sich aus den Fußballvereinen. Schröder spielte als Jugendlicher im Tor, irgendwann war er nicht mehr gut genug, der Verein machte ihm die Schiedsrichterei schmackhaft, und tatsächlich, eine Leidenschaft war entzündet.
In seinem Buch, das satt mit Erfahrungen getränkt ist, lässt Christoph Schröder so manche Erinnerung Revue passieren, nicht alleine den eigenen Werdegang sondern auch Zeiten, Orte und natürlich die Veränderungen, denen der Fußballsport in diesen drei Jahrzehnten unterworfen war. Das Ergebnis ist realistische Heimatliteratur. Also nicht die Sentimentalität, der erwarteten Idylle. Wir reisen mit ihm durch den hessischen Kosmos, in Kleinstädte und Dörfer, auf Hartplätze und lauschige Sportanlagen im Wald. Er nimmt uns mit auf den Rasen und anschließend in die Vereinswirtschaft oder die Dorfgaststätte. Während uns Schröder durch das vierschrötige Milieu der hessischen Liegen führt, entwickelt sich das Buch zu einer Mentalitätsstudie. Es erzählt uns etwas über Deutschland, über dreiste Unehrlichkeit und Amateure, denen die sportliche Ehre über alles geht.
Der Blick in den psychologischen Werkzeugkasten ist sehr interessant. Wie ein Schiedsrichter sich etwa den Respekt des Alphatiers sichert, das jede Mannschaft führt und intern den Ton vorgibt. Da geht es um Zwischentöne, die ein Schiedsrichter beherrschen muss, wenn es darum geht, ein Spiel in den Griff zu bekommen. Selbstverständlich gibt es auch ein Kapitel über Fehlentscheidungen, in dem Christoph Schröder durchaus großzügig mit seinen Kollegen umgeht. Während man als Betrachter im Fernsehsessel doch nicht darum herum kommt, sich zu fragen, ob sich sich ein Schiedsrichter nach seiner Verantwortung fragt, wenn er in der 90. Minute der Relegation einen Freistoß für ein vermeintliches Handspiel gibt, bei dem sich der betroffene Spieler mit angelegtem Arm wegdreht.
Nun denn, dieses Buch ist gespickt mit den köstlichsten Anekdoten. Während des Lesens ertappt man sich immer wieder beim lauten Lachen über die Absurditäten innerhalb des deutschen Amateurwesens. Geschmeidig wechselt dann wieder der Ton, und der Nachdruck der gestrengen Richterstimme gerät nie ganz in Vergessenheit. Es gibt nicht viele lesenswerte Bücher über die Welt des Fußballs, man hat schon Schwierigkeiten eine Handvoll zusammen zu bekommen, dieses ist jedenfalls Literatur, weil es sich zu einem Panorama weitet, in dem Menschen und Landschaften in ihrer herrlichen Vielgestaltigkeit beschrieben werden. Schade ist nur, dass es ein Ende hat, aber dafür hat man dann auch etwas gelernt und sieht die Jungs in Schwarz, die leider heute auch in bunt mit vorgereckter Brust aufs Spielfeld laufen, aus einer anderen Perspektive.
Christoph Schröder: „Ich Pfeife!“ | Tropen | 224 S. | 16,95 €
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