Hier konnte jemand offenbar gut mit dem Skalpell umgehen. Das Cover des neuen Romans der mehrfach mit literarischen Preisen ausgezeichneten Dänin Susanne Staun wurde aufgeschlitzt und man erkennt durch die Spalten im Papier den blutroten Einband des Buches. Der Tropen Verlag, der in Kölns Belgischem Viertel seine Initialzündung erlebte und später unter das Dach von Klett-Cotta in Stuttgart schlüpfte, hat sich stets etwas Besonderes für die Gestaltung seiner Bücher ausgedacht. Im aktuellen Fall liegt die Assoziation nahe, denn die Erzählerin des Romans „Totenzimmer“ ist eine Pathologin, die im Rechtsmedizinischen Institut von Odense arbeitet, und sie erzählt uns gleich, was für kraftvolle, geübte Hände sie besitzt. Leichen zu öffnen ist nämlich wahre Knochenarbeit.
Ansonsten besitzt Maria Krause, wie sie heißt, aber durchaus Charme. Sie ist nicht mehr ganz jung, trägt die Haare zu einem Pferdeschwanz, legt wenig Wert auf ihr Äußeres und scheint in ihren Jeans doch recht attraktiv zu sein. Ein Detail, das für die Story von Bedeutung ist. Es werden am Seeufer und in den Landschaftsbrachen der Stadt Leichen von jungen Mädchen gefunden, die mit einem Skalpell sadistisch zugerichtet wurden. Dass es um verdrängte Gefühle, Gewalt und Lüste geht, für die sich eben keine Worte finden lassen, wird schnell klar. Wir hören die Stimme eines Mörders, der von seinen Strategien erzählt, und wir gehen mit Maria durch ihr einsames Leben, in dem die sexuellen Übertretungen bald schon ein Thema werden.
Susanne Staun ist eine mutige Autorin, der nichts Körperliches fremd zu sein scheint. Die 55Jährige schreibt zupackend, bietet eine Erzählerin, die mit ihren persönlichen Schwächen Profil gewinnt. Allerdings schreibt Susanne Staun auch ungestüm, verrät das Ziel mancher Fährte voreilig. Weil Personen und Motive nicht immer zusammenpassen, gibt es Brüche, Zufälle und die losen Enden von interessanten Handlungsfäden, die letztlich nicht mehr vernäht werden können. Dennoch besitzt „Totenzimmer“ einen prototypischen Charakterzug für das Genre der Kriminalliteratur. Ein Genre, bei dem es nicht immer darauf ankommt, makellose Storys zu entwerfen, deren Motive wie Mathematikaufgaben errechnet werden können. Auf die Atmosphäre kommt es da schon eher an, sie muss tragen, dann nimmt man kleine Ungereimtheiten auch in Kauf. Hier ist es die Ermittlerin, die sich mit ihren männlichen Kollegen herumschlagen muss, die einen an den Text fesselt. Staun bewegt sich genau auf der Schneide jener Diskussion, die derzeit die Gemüter so heftig erhitzt. Wie ist das mit dem unkorrekten Verhalten, mit den Grenzüberschreitungen zwischen den Geschlechtern in den Büros der Justiz und der Krankenhäuser? Maria Krause erlebt sie, sie ist von ihnen sowohl angewidert wie fasziniert. Sexualität ohne Grenzüberschreitung kann es nicht geben. Aber wo sind sie angesagt und wo nicht? „Totenzimmer“ ist kein Roman, der Antworten gibt, aber der das Terrain in seiner Komplexität beschreibt. Dass man dabei immer wissen will, wie es weitergeht, spricht für das Buch, das zu den Krimis gehört, die man nicht so schnell vergisst.
Susanne Staun: Totenzimmer | Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob | Tropen bei Klett-Cotta | 334 S., 19,95 Euro
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