choices: Lieber PeterLicht, nachträglich herzlichen Glückwunsch zur Liliencron-Dozentur 2018, der einzigen Poetikdozentur reiner Lyrik in Deutschland. Das ist ein hochkultureller Ritterschlag.
PeterLicht: Danke sehr. Es dauert allerdings nur eine Woche. Man hält eine Vorlesung im Audimax der Uni Kiel, besucht ein Seminar und gibt eine Lesung. Ein Herr aus der Jury hat meine Rede dort direkt wieder zum Anlass einer wissenschaftlichen Arbeit genommen. Germanisten halt. (lacht)
Wird man dazu berufen oder steht man vor den Toren wie einst Gerhard Schröder am Gitter des Bundestages, rüttelt manisch und ruft, man wolle nun endlich auch mal rein?
Es ist ein Preis, vergeben von einer Jury. Ich finde es großartig, mit anderen Menschen intensiv über meine Kunst zu sprechen. Immerhin ist es meine Lebensaufgabe, mich mit Sprache zu befassen. Kürzlich hatte wieder ein Theaterstück von mir Premiere in Basel. Ich schreibe Neudichtungen klassischer Stücke von Molière. Dabei geht es auch um ganz bestimmte Setzungen. Sprache, Wirklichkeit, Bewusstsein, Politik, unser Mindset – das hängt alles zusammen.
Du bist also ein echter Konstruktivist, der davon ausgeht, dass Sprache die Welt nicht abbildet, sondern erschafft?
Wenn ich einen Song schreibe, besteht der Reiz darin, einen Slogan oder ein Sprachbild in den mentalen Raum zu schießen und zu schauen, was daraus entsteht. Das ist die Aufgabe, wenn man deutschsprachige Musik macht.
Wenn das dein Anspruch ist, müsstest du beim Hören der sogenannten neuen deutschen Pop-Poeten auf der Stelle Fußpilz kriegen.
Wer wird denn so genannt?
Männchen wie Mark Forster, Wincent Weiss oder Max Giesinger. Die ganzen abgebrühten Musikfabrikanten. Deren Textbausteine müssen jemanden wie dich, der sich ernsthaft mit Lyrik beschäftigt, doch sehr zornig machen.
Nein, ich werde da nicht zornig. Ich betrachte das alles als Phänomene. Manche Stücke aus der Ecke funktionieren selbst bei mir. Das sind alles Kollegen.
Du bist sehr sanftmütig. Gut, kommen wir zu deiner Kunst. Die Stücke auf dem neuen Album könnte man als algorithmische Poesie bezeichnen. Du denkst dir zuerst ein Prinzip aus und aus diesem ergibt sich der Text wie von selber.
Ich versuche, Kausalitäten herzustellen. Idealerweise entstehen dabei Dinge, die unwiderlegbar wahr sind. Kausalkatten, gegen die niemand Einspruch erheben kann. Mir geht es weniger um Gefühle, das mag der Unterschied sein zu den genannten Kollegen. Ich ziele darauf ab, einen Baukasten aus Kausalitäten zu konstruieren.
Deine Art von Versen bilden sich in meinem Kopf, wenn ich Fieberträume habe.
Dann hast du aber schöne Fieberträume.
Ich meine damit die Denkschleifen, das Selbstreferentielle, das Kreisen.
Gut, aber es ist niemals sinnlos, auch wenn es sich oberflächlich Gaga anhört. So wie das „Chipslied“ mit der Abwandlung des alten Umweltslogans: „Erst wenn der letzte Chip gegessen ist, werdet ihr wissen, dass man Chips nicht essen kann.“ Natürlich kann man Chips essen, doch niemals mit gutem Gewissen. Sie sind das ultimative kapitalistische Produkt und spiegeln als Ernährungsform perfekt unsere Zeit. Es gibt Nahrungsmittel-Designer, die beschäftigen sich hauptberuflich damit, wie die Dinger im Mund am besten zerspringen.
Kartoffelchips haben nachweislich ein wissenschaftlich so perfekt austariertes Verhältnis von Fett, Zucker und Salz, dass es unmöglich ist, vor dem kompletten Leeren der Tüte aufzuhören.
Da siehst du’s. Eine Optimierung des Kampfkörpers für das Bestehen auf dem Markt ist mit Chips unmöglich. So gesehen kann man sie nicht einfach so essen.
Der Drang zur ständigen Optimierung scheint dein Hauptfeind zu sein. Das „Optionslied“ erzählt davon, wie Menschen sich nur für die Version von sich lieben, die sie sein könnten. Sehr bald schon, in der besseren Zukunft. Es ist sehr mathematisch gebaut, fasst einen aber in seinem wahren Zynismus sehr an. Obschon diese Form der Entfremdung dich selbst nicht betrifft.
Wieso das denn nicht? Ich bin doch nicht frei von dem, was ich da besinge! Ich bin in der Welt unterwegs wie jeder andere auch und muss im System funktionieren. Ich laufe doch nicht wie ein kleiner Prinz durch die Gegend. Die Frage überrascht mich wirklich. Ich wäre gar nicht darauf gekommen, dass mich selbst dieses Thema der Optimierung nicht beträfe.
Also bitte, du konntest deine Leidenschaft zum Beruf machen und kannst innerhalb dessen sogar kompromisslos agieren. Jemand, der künstlerisch so frei und selbstverwirklichend arbeiten darf wie du, sehnt sich doch sicher nicht so dringlich nach anderen Optionen wie etwa ein Hochliterat, der sich als Werbetexter verdingen muss. Oder ein Philosoph im Call-Center.
Okay, inhaltlich bin ich tatsächlich noch niemals einen Kompromiss eingegangen. Das hat für mich aber nichts mit dem allgemeinen Zwang zur Optimierung zu tun, von dem sich kein Mensch der Moderne freimachen kann. Wir schauen uns um und denken bei jedem Objekt sofort, wie es besser gemacht werden könnte. Kein Steinzeitmensch wäre auf diese Idee gekommen.
Wie zeigt sich dein Anspruch im Alltag? Wenn wir wie normale Menschen an der Supermarktkasse warten müssen, holen wir das Handy heraus und spielen „Candy Crush“. Ich vermute, du nestelst bei dieser Gelegenheit ein mitgeführtes Reclamheft wie „Emilia Galotti“ aus der Hemdtasche.
Genauso verhält sich das. Aus diesem Grunde trage ich auch grundsätzlich nur Hemden mit Brusttasche. (lacht) Im Ernst: Selbst, wenn ich Molière neu inszeniere, vergrabe ich mich nicht in akademischen Interpretationen. Es geht mir um den Klang, den sinnlichen Gesamteindruck.
CD PeterLicht: Wenn Wir Alle Anders Sind | Tapete Records
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