Im letzten Jahr schon durfte man sich wundern, dass mit dem Nobelpreis einmal nicht Autoren bedacht wurden, deren große Zeit Jahrzehnte zurückliegt oder deren Werk nicht wirklich zur Weltspitze gehört. Nein, mit der Entscheidung für Alice Munro ging der Preis an eine Autorin, deren Stilistik sich dadurch auszeichnet, dass sie psychologische Komplexität mit atemberaubender Dramatik zu verbinden weiß. Überraschend auch, dass mit ihr eine Autorin ausgezeichnet wurde, die offenes politisches Engagement vermeidet.
Auch Modiano ist kein politischer Autor, allerdings ist sein Schreiben immer wieder gebunden an die Ereignisse der jüdischen Deportation oder Frankreichs Krieg in Nordafrika. Obwohl die Romane zumeist in den frühen 60er Jahren spielen, bleiben die Schatten des Holocaust spürbar. Der 1945 geborene Franzose gehört zur nachgeborenen Generation, er imaginiert die Vergangenheit und versteht sie doch in jene bedrückende Atmosphäre seelischer Kälte zu tauchen, die er als Kind durchlitten hat. In seinem Buch „Ein Stammbaum“ liefert er die sachlichen Aufzeichnungen dieser traurigen Kindheit eines ungeliebten Jungen.
Modiano erzählt aus einer ungewöhnlich konsequenten Privatheit heraus. Im Grunde ist es eine einzige Geschichte, die er in alle Richtungen weiterverfolgt. Man könnte seine Romane wie Mosaiksteine aneinanderlegen, in ihnen allen gibt es die gleiche melancholische und zugleich vibrierend sinnliche Atmosphäre eines Paris vergangener Tage, in das ein sparsam dosiertes Licht fällt. Das Objekt der Liebe ist immer schon verloren, bevor sein Verlust überhaupt wahrgenommen wird. Und so scheint es, als würde man in einen französischen Film Noir eintreten, der in seinen aufbrausenden Momenten an Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ erinnert.
Oftmals sind es die Augen junger Männer und Frauen aus denen die Welt betrachtet wird. Beziehungen halten nie, es gibt Begegnungen, die sogleich verwehen, der Rest ist ein Suchen im Nebel der Vergangenheit, im Halbdunkel eines kriminellen Milieus und dem verwunschenen Universum der Stadtlandschaft von Paris. Um in Modianos Archipel Eingang zu finden, eignet sich der neue Roman „Gräser der Nacht“ besonders gut. In der Erinnerung von Jean steigen Bilder eines Hauses, eines geparkten Autos und von Dannie auf, einer jungen Frau, in der er sich verliebt zu haben glaubte. Dannie bringt er mit einem Hotel in Verbindung, mit fremden Männern und einem Pistolenschuss. Beiläufig erfährt er vom Schicksal einer Frau, die von der Resistance vor einer Hauswand erschossen wurde, bevor man feststellte, dass man sie verwechselt hatte.
Vielleicht gelingt Modiano mit diesem Roman in Deutschland der Durchbruch. Tapfer hat Suhrkamp über viele Jahre seine Bücher verlegt, aber selbst Peter Handkes Appell an die Leser und seine Übersetzung von „Eine Jugend“ brachten nicht den Erfolg. So wechselte der Franzose zu Hanser, wo seine Romane nun in eleganter Aufmachung präsentiert werden und Elisabeth Edl mit jedem Text ein kleines Meisterwerk der Übersetzung gelingt. Alle Voraussetzungen sind gegeben, um süchtig nach diesen Geschichten zu werden, die so wunderbar ausbalanciert sind zwischen Vergeblichkeit und sinnlicher Verheißung.
Patrick Modiano: „Die Gräser der Nacht“ | Deutsch von Elisabeth Edl | Hanser Verlag | 176 S. | 18,90 €
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