Im April sieht sie aus wie ein Märchenschloss. Ist die Kirschblütenzeit vorbei, kommt auch die marode wirkende Fassade wieder zum Vorschein. Äußerlichkeiten sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Inneren ein wahres Kraftwerk des Wissens brummt. Befeuert wird es von den Begegnungen der Menschen, die Kölns Zentralbibliothek am Josef-Haubrich-Hof zu einem einzigartigen Ort der Kultur machen. Wer denkt, dass die Bücher im Zeitalter der Digitalisierung ausgedient hätten, darf sich wundern. Zum Beispiel über 7,5 Millionen Mediennutzungen in der Stadtbibliothek, die von 2,3 Millionen Besuchern getätigt werden. Dazu bieten die Mitarbeiter fast eine halbe Million Beratungsgespräche und organisieren 3000 Veranstaltungen im Jahr.
„Wissen hat sich verändert“, erklärt Judith Petzold, die in der Bibliothek für die Kommunikation zuständig ist. Sie verweist auf ein verändertes Bibliotheksverständnis, das dynamisch auf die Zukunft ausgerichtet sei. Hannelore Vogt, die Leiterin der Bibliothek, setzte früh auf neue Technologien, so dass in ihrem Haus als erster Bibliothek in Deutschland ein 3D-Drucker stand. 2015 gewann man die Auszeichnung „Bibliothek des Jahres“, auch weil hier der Spagat zwischen Bildung und Kultur überzeugend funktioniert. Gegründet wurde die Zentralbibliothek 1979, nicht zuletzt aufgrund des energischen Betreibens von Heinrich Böll, dessen Arbeitszimmer man in der 2. Etage hinter einer Glaswand betrachten kann.
Der Nobelpreisträger wird sich die Bibliothek so vorgestellt haben, wie sie heute genutzt wird. Nämlich zu einem großen Teil von jungen Menschen, die hier Beratung erhalten, ihr Wissen in Workshops erproben können, und das auch in digitalen Lern- und Experimentierfeldern. Vor allem jedoch wird ihnen ein Ort der Konzentration zur Verfügung gestellt. In einer Welt, die auf Ablenkung hin organisiert ist, kann man hier Kontemplation finden. Schon die Schüler wissen das zu schätzen und verwandeln das Haus zunehmend in einen beliebten Treffpunkt. Eine Tatsache, die von Bedeutung ist, weil die Bibliothek dadurch auch für Migrantenkinder – denen zahlreiche Bildungsangebote offenstehen – zunehmend an Attraktivität gewinnt. Menschen mit Fluchterfahrung wird hingegen in der Reihe „A Million Stories“ ein Forum geboten.
„Wir sind ein offenes Haus. Man braucht keinen Benutzerausweis um sich hier aufzuhalten“, sagt Judith Petzold. An die 900.000 Medien sind im Hause verfügbar. Da kann man schon ausgiebig recherchieren. In den letzten Jahren hat die Bibliothek auch wieder eine Tradition aufgenommen, die ihr in der Vergangenheit dankbare Besucher bescherte. Mit der Reihe „Wissenswert – Gespräche am Puls der Zeit“ lockt man Autoren und Wissenschaftler ins Haus. Vor wenigen Wochen noch war Alberto Manguel, Leseforscher und Direktor der Bibliothek National in Buenos Aires zu Gast. Mit Wolf Singer holte man sich einen Neurowissenschaftler zum Gespräch. Moderatoren wie Ranga Yogeshwar und Gert Scobel lieben das Haus und plaudern mit Architekten, Philosophen oder Soziologen über den Zustand unserer Welt. Es macht Spaß einen Abstecher in das gläserne Gebäude hinter dem Neumarkt einzuplanen, und sei es nur, um im großen Lesesaal in den zahlreichen Magazinen und Tageszeitungen zu schmökern.
Info: www.stbib-koeln.de
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