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"Njállsgata" ist eine Straße im Zentrum von Reykjavik, benannt nach dem Titelhelden der "Saga von Njáll",
Foto: Klaus Sander

Keine Wikinger im Schwarzwald

25. August 2011

Islands Sagas neu und frisch erzählt - Textwelten 09/11

Keine Mönche, Gelehrte und königliche Chronisten verfassten die ersten bedeutenden Prosatexte im Norden Europas. Es waren Bauern oder besser gesagt Gutsbesitzer, die tagsüber den Acker bestellten, abends schrieben und Europa dadurch zu einem der außergewöhnlichsten Ereignisse seiner Literaturgeschichte verhalfen. So eigenwillig, wie sich Islands Nation zusammensetzte, die von Fahrensmännern und ihren Frauen gegründet worden war, und denen von Beginn an bewusst war, dass sie keinen König über sich haben wollten, so besonders nahm sich ihre Literatur aus. Die wurde nicht in feinem Latein, sondern in der Sprache des Alltags verfasst, denn sie dokumentierte die Geschichten von Wikingern, Königen, Dichtern, Raufbolden, Gesetzlosen und willensstarken Frauen, die man sich in den Monaten der Polarnacht erzählte.

Grausig und komisch zugleich geht es darin zu. Man kann süchtig nach diesen Geschichten werden, aber vor allem nach den Stimmen, die sie erzählen. Deutschland verbindet eine unselige Geschichte mit den „Sagas“, die im 13. Jahrhundert geschrieben wurden, aber von Geschehnissen erzählen, die sich in der Zeit der Christianisierung zwischen 850 und 1050 ereigneten. Die Nazis benutzten die Sagas als Baustein für ihre Theorie einer originären germanischen Rasse und Kultur. Alle Namen wurden eingedeutscht, so dass der Eindruck entstand, als würden die Wikinger im Schwarzwald leben.

Jetzt legt der S. Fischer Verlag eine wunderbare fünfbändige Ausgabe der „Isländersagas“ vor, an der 14 Übersetzer mitwirkten, die ohne Verständnishürden jedem Leser die Möglichkeit eröffnen soll, die Fantastik und Tragik der Sagas mitreißend erleben zu können. Aber es ist schwierig, die Frische des Humors zu erhalten, der in diesen Texten steckt, die über dem mündlichen Erzählen immer mehr an Qualität gewannen. Klaus Sander und Thomas Böhm sind deshalb mit einem Aufnahmegerät nach Island gereist und haben sich etwa „Die Saga von Njáll“, die eine Art Nationalsaga darstellt, von isländischen Autoren im Gespräch erzählen lassen.

Ein Geniestreich, den Sander schon im Wissenschaftsbereich seines supposé Hörbuchverlags kultiviert hat. Dort lässt er Wissenschaftler wie jetzt etwa Aleida und Jan Assmann in der Aufnahme „Wem gehört die Geschichte?“ über das Erinnern und die Architektur sprechen. Theorie wird erzählt oder im Dialog entfaltet, so entwickeln sich komplexe Zusammenhänge derart einfühlsam und übersichtlich, dass jeder ihnen folgen kann. Dieses Prinzip funktioniert auch im Umfeld der „Sagas“. Man hat den Eindruck, den Erzählern am Tisch gegenüber zu sitzen. Vor allem jedoch erfährt man viel von den Autoren und Literaturwissenschaftlern über die Orte der Sagen, über die Liebe, die Frauen, den Zauber und die Magie. Die Isländer erzählen, als ginge es um Familienangehörige, tatsächlich existieren in der Gegenwart viele Sprachbilder aus den Sagas fort. Das mündliche Erzählen schafft eine Nähe, die unweigerlich berührt, da der Erzählende immer gerichtet spricht, er will verstanden werden, zieht sich nicht auf das gedruckte Wort zurück. Der Rhythmus, die Pausen, die Bewegungen des Denkens und der Erinnerung sind in dieser Form des mündlichen Erzählens enthalten. Das ist etwas anderes als ein vorgelesener Text, man spürt, wie sich die Erzählenden an ihrem Stoff erfreuen, wie ihnen selbst noch einmal die Komik bewusst wird, die in den Stoff der „Sagas“ eingeflochten ist.

THOMAS LINDEN

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