Keine Mönche, Gelehrte und königliche Chronisten verfassten die ersten bedeutenden Prosatexte im Norden Europas. Es waren Bauern oder besser gesagt Gutsbesitzer, die tagsüber den Acker bestellten, abends schrieben und Europa dadurch zu einem der außergewöhnlichsten Ereignisse seiner Literaturgeschichte verhalfen. So eigenwillig, wie sich Islands Nation zusammensetzte, die von Fahrensmännern und ihren Frauen gegründet worden war, und denen von Beginn an bewusst war, dass sie keinen König über sich haben wollten, so besonders nahm sich ihre Literatur aus. Die wurde nicht in feinem Latein, sondern in der Sprache des Alltags verfasst, denn sie dokumentierte die Geschichten von Wikingern, Königen, Dichtern, Raufbolden, Gesetzlosen und willensstarken Frauen, die man sich in den Monaten der Polarnacht erzählte.
Grausig und komisch zugleich geht es darin zu. Man kann süchtig nach diesen Geschichten werden, aber vor allem nach den Stimmen, die sie erzählen. Deutschland verbindet eine unselige Geschichte mit den „Sagas“, die im 13. Jahrhundert geschrieben wurden, aber von Geschehnissen erzählen, die sich in der Zeit der Christianisierung zwischen 850 und 1050 ereigneten. Die Nazis benutzten die Sagas als Baustein für ihre Theorie einer originären germanischen Rasse und Kultur. Alle Namen wurden eingedeutscht, so dass der Eindruck entstand, als würden die Wikinger im Schwarzwald leben.
Jetzt legt der S. Fischer Verlag eine wunderbare fünfbändige Ausgabe der „Isländersagas“ vor, an der 14 Übersetzer mitwirkten, die ohne Verständnishürden jedem Leser die Möglichkeit eröffnen soll, die Fantastik und Tragik der Sagas mitreißend erleben zu können. Aber es ist schwierig, die Frische des Humors zu erhalten, der in diesen Texten steckt, die über dem mündlichen Erzählen immer mehr an Qualität gewannen. Klaus Sander und Thomas Böhm sind deshalb mit einem Aufnahmegerät nach Island gereist und haben sich etwa „Die Saga von Njáll“, die eine Art Nationalsaga darstellt, von isländischen Autoren im Gespräch erzählen lassen.
Ein Geniestreich, den Sander schon im Wissenschaftsbereich seines supposé Hörbuchverlags kultiviert hat. Dort lässt er Wissenschaftler wie jetzt etwa Aleida und Jan Assmann in der Aufnahme „Wem gehört die Geschichte?“ über das Erinnern und die Architektur sprechen. Theorie wird erzählt oder im Dialog entfaltet, so entwickeln sich komplexe Zusammenhänge derart einfühlsam und übersichtlich, dass jeder ihnen folgen kann. Dieses Prinzip funktioniert auch im Umfeld der „Sagas“. Man hat den Eindruck, den Erzählern am Tisch gegenüber zu sitzen. Vor allem jedoch erfährt man viel von den Autoren und Literaturwissenschaftlern über die Orte der Sagen, über die Liebe, die Frauen, den Zauber und die Magie. Die Isländer erzählen, als ginge es um Familienangehörige, tatsächlich existieren in der Gegenwart viele Sprachbilder aus den Sagas fort. Das mündliche Erzählen schafft eine Nähe, die unweigerlich berührt, da der Erzählende immer gerichtet spricht, er will verstanden werden, zieht sich nicht auf das gedruckte Wort zurück. Der Rhythmus, die Pausen, die Bewegungen des Denkens und der Erinnerung sind in dieser Form des mündlichen Erzählens enthalten. Das ist etwas anderes als ein vorgelesener Text, man spürt, wie sich die Erzählenden an ihrem Stoff erfreuen, wie ihnen selbst noch einmal die Komik bewusst wird, die in den Stoff der „Sagas“ eingeflochten ist.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24