Jonathan Franzen betritt die Bühne unter tosendem Applaus. Dann spricht er auf Deutsch ins Mikrofon, und das Publikum lauscht andächtig. Wie schafft der amerikanische Kultautor das eigentlich? Wie gelingt es, einen schweren intelligenten Wälzer nach dem anderen zu verfassen, und wieso kann er auch noch so gut Deutsch? Franzen studierte Germanistik, unter anderem in Berlin, klärt er auf. Mathematik zu studieren, war zu hart für ihn. „Deutsch klingte praktischer.“ Das Publikum lacht. Überhaupt ist Franzens amerikanisiertes Deutsch irgendwie amüsant. Und so gibt der 56-jährige Schriftsteller einen lustigen Satz nach dem anderen von sich. Z.B.: Die Deutschen seien die intelligenteste Spezies, aber auch die dümmste.
Überhaupt ist vieles „deutsch“ an diesem Abend. So verwundert es auch nicht, dass „Unschuld“ („Purity“ im Original) unter anderem in Deutschland spielt, genauer gesagt in der DDR. Franzen zieht dabei einen schwarz-humorigen Vergleich zwischen dem DDR-Regime (das in seinem Roman notorisch als die „Republik des schlechten Geschmacks“ bezeichnet wird) und dem Internet, wobei man nicht genau weiß, welches nun das Schlechtere der beiden ist. Die Handlung: Der amerikanische Journalist Tom, dessen in Jena geborene Mutter an Verdauungsstörungen leidet, zum Zeitpunkt des Mauerfalls in Berlin. Dort trifft er auf den Oppositionellen Andreas und wird zum Mitwisser eines furchtbaren Verbrechens. Dieser beichtet ihm nämlich, einen Stasi-Spitzel getötet zu haben, der minderjährige Mädchen missbraucht haben soll. Andreas steigt fortan zum berühmten Whistleblower-Popstar à la Assange auf. Sein einziges Problem: Im Zeitalter von Facebook einen Mord zu verschweigen.
Franzen stellt in seinem neuen Roman den desolaten Osten Deutschlands den korrupten aber zugleich kitschig-idealistischen USA der Gegenwart gegenüber. „Die Amerikaner sind auch nicht ganz dicht,“ bekennt er im Gespräch.
Aber: In seinem Roman ist nicht etwa nur die Stasi der Feind, nein, in „Unschuld“ist jeder gewissermaßen schuldig. Hacker, Whistleblower, Pazifisten und Veganer auch.
Doch, und hier hätte man sich angesichts Franzens tiefsinnigen und wie üblich umfangreichen Buches einige wenige kluge Fragen von Moderator Denis Scheck zum Thema gewünscht, die über Oberflächliches wie „Waren Sie schon einmal in der DDR?“ oder: „Warum zieht denn einer der Protagonisten von Berlin nach Düsseldorf?“ hinaus gegangen wären. Statt auf das eigentlich spannende Thema einzugehen, nämlich, wie passend der Vergleich zwischen dem DDR-Überwachungs-Regime von damals und dem gläsernen Internet von heute ist, und ob die Whistleblower dieser Welt tatsächlich die besseren Menschen sind? Doch zu diesen großen Fragen kommt es an diesem Abend leider nicht.
Dennoch ist Franzens Roman vor allem eines: lesenswert. Und, er hat es mit „Unschuld“ geschafft, sein Werk aus dem üblichen Familienumfeld auf eine gesamtgesellschaftliche, das grenzenlose Internet einbeziehende, Ebene zu hieven.
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