Ein Mädchen verschwindet. Im Augenwinkel glaubt ihre beste Freundin ein Auto gesehen zu haben. Eine Frau putzt sich vor dem Schlafengehen die Zähne und hört ein verdächtiges Geräusch vor ihrem Haus. Im nächsten Moment kracht ein Brandsatz durchs Fenster und zerstört das Haus bis auf die Grundmauern. Ein Ort im Mittleren Westen der USA, an dem viel über Gott gesprochen wird, aber ein Mord nichts Ungewöhnliches ist. Ein junger Mann schwört dort Rache, nachdem seine Freundin vom Ortsprediger missbraucht wurde. Drei Romane, die sich um Verbrechen drehen und doch keine Kriminalromane im klassischen Sinne darstellen. Keine Detektive, keine Ermittler und nirgendwo der vertraute Ton des Genres. Gewalt, die im Verbrechen wie in einer Wunde zutage tritt und die inneren Defekte einer Gesellschaft sichtbar werden lässt.
„Das Ende der Unschuld“ erzählt von der 13jährigen Lizzie und ihrer Freundin Evie. Unzertrennlich sind sie, gehen in dieselbe Klasse, tauschen Badeanzüge und Hockeyschläger, wissen von jeder Narbe und jedem blauen Fleck am Schienbein der anderen. Man glaubt den Atem der beiden Mädchen zu schnuppern, so intensiv lädt Megan Abbott ihre Prosa mit sinnlicher Nähe und Intimität auf. Eine amerikanische Vorstadtatmosphäre, ein warmer Spätsommer, in dem nach Evie gesucht wird. Lizzie hält die Augen auf und entdeckt überall Geheimnisse der Erwachsenen, von denen Evie offenbar auch gewusst hat. Mit der Entdeckung der erwachsenen Sexualität zieht sich für Lizzie ein unsichtbares Netz von Zusammenhängen durch die Welt der Familien, das ihr zuvor nie aufgefallen ist. Obwohl sich Megan Abbott mitunter in ihren Handlungsfäden verheddert, bietet sie die prickelnde Atmosphäre zu einer cleveren Story.
In das tiefgelagerte Zentrum einer erstarrten Gesellschaft führt Gaute Heivolls Recherche über den Pyromanen, dessen Schicksal er in seinem Roman „Bevor ich verbrenne“ folgt. Vor der ersten Seite dieses Romans sei gewarnt, wer sie liest, wird in die Welt des kleinen norwegischen Ortes hineingezogen und fliegt dann nur noch hastig über die Seiten. So spannend und schicksalsschwer liest sich der Blick in die Innenwelt des Verbrechens. Zehn Häuser werden in kurzer Zeit angezündet, Menschen um ihre Existenz, ihre Vergangenheit gebracht. Wer tut so etwas? Die bohrende Frage, die Heivoll durch den Roman treibt und die brennende Neugierde auslöst, weil der Täter ein Eingeweihter ist. Heivoll beschreibt die emotionale Verwüstung einer Gemeinschaft, die für immer das Vertrauen in sich verloren hat. Manche Verletzungen sind nie wieder zu heilen.
Den Blick auf ein wahres Inferno liefert Donald Ray Pollock, ein Roman-Debütant, der mit seinen 58 Jahren allerdings ein makelloses Meisterwerk präsentiert. „Das Handwerk des Teufels“ liest sich wie eine Kreuzung aus Cormac McCarthys Bitternis und der bizarren Komik, mit der die Coen Brüder in „Fargo“ die Welt des amerikanischen Mittelwestens schildern. Pollock gibt eine Vorstellung von der mörderischen Verwandtschaft, die Einfalt und Bosheit miteinander eingehen können. Über zwei Generationen hinweg erleben wir, wie der junge Arvin in eine Welt aus Gier und religiöser Besessenheit hineingeboren wird und seinen Weg in die Freiheit sucht. Pollock vermag das Inventar der Provinz ganz nah in den Blick zu nehmen und zugleich eine kontrollierte Distanz zu seinen Figuren zu unterhalten. Gewalt hinterlässt unauslöschliche Spuren in der Seele der Menschen, Pollock beschreibt sie nicht, sondern lässt sie uns ahnen. Das gibt seinem Roman die Wucht. Die letztlich immer ein wenig tröstliche Existenz eines Ermittlers, der immerhin eine Vorstellung von Gerechtigkeit hat, kann es in diesen Romanen, deren Geschichten um die wunde Stelle des Verbrechens kreisen, nicht mehr geben. Das Verbrechen ist hier nichts weiter als ein zerstörerischer Akt, der von keinem Rechtssystem mehr geahndet werden könnte. Eine heillose, aber elektrisierend vitale Welt.
Megan Abbott: Das Ende der Unschuld. Deutsch von Isabel Bogdan. Kiepenheuer & Witsch. 288 S., 17,99 €
Gaute Heivoll: Bevor ich verbrenne. Deutsch von Ulrich Sonenberg. Schöffling & Co., 322 S., 21,95 €
Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels. Deutsch von Peter Torberg. Liebeskind, 304 S., 19,80 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25