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Empfehlenswerter Roman eines Debütanten
Foto: Verlagsbuchhandlung Liebeskind

Im Innern des Verbrechens

29. März 2012

Kriminalromane ohne Ermittler - Textwelten 04/12

Ein Mädchen verschwindet. Im Augenwinkel glaubt ihre beste Freundin ein Auto gesehen zu haben. Eine Frau putzt sich vor dem Schlafengehen die Zähne und hört ein verdächtiges Geräusch vor ihrem Haus. Im nächsten Moment kracht ein Brandsatz durchs Fenster und zerstört das Haus bis auf die Grundmauern. Ein Ort im Mittleren Westen der USA, an dem viel über Gott gesprochen wird, aber ein Mord nichts Ungewöhnliches ist. Ein junger Mann schwört dort Rache, nachdem seine Freundin vom Ortsprediger missbraucht wurde. Drei Romane, die sich um Verbrechen drehen und doch keine Kriminalromane im klassischen Sinne darstellen. Keine Detektive, keine Ermittler und nirgendwo der vertraute Ton des Genres. Gewalt, die im Verbrechen wie in einer Wunde zutage tritt und die inneren Defekte einer Gesellschaft sichtbar werden lässt.

„Das Ende der Unschuld“ erzählt von der 13jährigen Lizzie und ihrer Freundin Evie. Unzertrennlich sind sie, gehen in dieselbe Klasse, tauschen Badeanzüge und Hockeyschläger, wissen von jeder Narbe und jedem blauen Fleck am Schienbein der anderen. Man glaubt den Atem der beiden Mädchen zu schnuppern, so intensiv lädt Megan Abbott ihre Prosa mit sinnlicher Nähe und Intimität auf. Eine amerikanische Vorstadtatmosphäre, ein warmer Spätsommer, in dem nach Evie gesucht wird. Lizzie hält die Augen auf und entdeckt überall Geheimnisse der Erwachsenen, von denen Evie offenbar auch gewusst hat. Mit der Entdeckung der erwachsenen Sexualität zieht sich für Lizzie ein unsichtbares Netz von Zusammenhängen durch die Welt der Familien, das ihr zuvor nie aufgefallen ist. Obwohl sich Megan Abbott mitunter in ihren Handlungsfäden verheddert, bietet sie die prickelnde Atmosphäre zu einer cleveren Story.

In das tiefgelagerte Zentrum einer erstarrten Gesellschaft führt Gaute Heivolls Recherche über den Pyromanen, dessen Schicksal er in seinem Roman „Bevor ich verbrenne“ folgt. Vor der ersten Seite dieses Romans sei gewarnt, wer sie liest, wird in die Welt des kleinen norwegischen Ortes hineingezogen und fliegt dann nur noch hastig über die Seiten. So spannend und schicksalsschwer liest sich der Blick in die Innenwelt des Verbrechens. Zehn Häuser werden in kurzer Zeit angezündet, Menschen um ihre Existenz, ihre Vergangenheit gebracht. Wer tut so etwas? Die bohrende Frage, die Heivoll durch den Roman treibt und die brennende Neugierde auslöst, weil der Täter ein Eingeweihter ist. Heivoll beschreibt die emotionale Verwüstung einer Gemeinschaft, die für immer das Vertrauen in sich verloren hat. Manche Verletzungen sind nie wieder zu heilen.

Den Blick auf ein wahres Inferno liefert Donald Ray Pollock, ein Roman-Debütant, der mit seinen 58 Jahren allerdings ein makelloses Meisterwerk präsentiert. „Das Handwerk des Teufels“ liest sich wie eine Kreuzung aus Cormac McCarthys Bitternis und der bizarren Komik, mit der die Coen Brüder in „Fargo“ die Welt des amerikanischen Mittelwestens schildern. Pollock gibt eine Vorstellung von der mörderischen Verwandtschaft, die Einfalt und Bosheit miteinander eingehen können. Über zwei Generationen hinweg erleben wir, wie der junge Arvin in eine Welt aus Gier und religiöser Besessenheit hineingeboren wird und seinen Weg in die Freiheit sucht. Pollock vermag das Inventar der Provinz ganz nah in den Blick zu nehmen und zugleich eine kontrollierte Distanz zu seinen Figuren zu unterhalten. Gewalt hinterlässt unauslöschliche Spuren in der Seele der Menschen, Pollock beschreibt sie nicht, sondern lässt sie uns ahnen. Das gibt seinem Roman die Wucht. Die letztlich immer ein wenig tröstliche Existenz eines Ermittlers, der immerhin eine Vorstellung von Gerechtigkeit hat, kann es in diesen Romanen, deren Geschichten um die wunde Stelle des Verbrechens kreisen, nicht mehr geben. Das Verbrechen ist hier nichts weiter als ein zerstörerischer Akt, der von keinem Rechtssystem mehr geahndet werden könnte. Eine heillose, aber elektrisierend vitale Welt.

Megan Abbott: Das Ende der Unschuld. Deutsch von Isabel Bogdan. Kiepenheuer & Witsch. 288 S., 17,99 €

Gaute Heivoll: Bevor ich verbrenne. Deutsch von Ulrich Sonenberg. Schöffling & Co., 322 S., 21,95 €

Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels. Deutsch von Peter Torberg. Liebeskind, 304 S., 19,80 €

Thomas Linden

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