Auf der Qualitätsskala der literarischen Genres rangierten die Western ganz unten. Selbst den Pornos wurde mitunter mehr künstlerische Substanz bescheinigt als den Trivial-Opern der Revolverhelden. Mit den wuchtigen Romanepen eines Cormac McCarthy wendete sich das Blatt in den 90er Jahren. Das offene Land im Westen der USA wurde als ein letzter Ort entdeckt, in dem die Moderne noch mythische Tiefe findet. Ein Raum von Landschaft und Zeit, in den sich bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein Legenden projizieren ließen.
Die große Entdeckung dieses Jahres stellt „Butcher‘s Crossing“ von John Williams dar. Schon mit seinem wiederentdeckten Roman „Stoner“ deutete sich an, dass die Karte der amerikanischen Literatur neu verzeichnet werden muss. Der Roman erzählt von einem jungen Mann aus Boston, der die Welt des Westens kennenlernen will. Wobei die Furcht vor der Begegnung mit dem weiblichen Körper auch eine Rolle bei der Flucht in die Wildnis spielt. Er ist aber nicht naiv, heuert eine kleine Truppe von Jägern an, die ihm das Versprechen geben, eine der letzten Büffelherden des Kontinents zu Gesicht zu bekommen. 1960 veröffentlichte Williams „Butcher‘s Crossing“, und während man diese unglaublich frische Prosa liest, fragt man sich unwillkürlich, wie konnte er die Herden so genau beschreiben? Williams findet Zugang zu archaischen Welten von Tier und Mensch. In diesem Roman scheint immer alles möglich, man fliegt über die Seiten und wird mit einer Tragik konfrontiert, die schmerzhaft zeigt, wie die entfesselte Moderne alles Wilde und Ungeschützte zerstört.
Mit der Weite spielt auch Céline Minard, eine 46-jährige Französin, die in ihrem Roman „Mit heiler Haut“ den Frauen Eingang in den Western beschert. Minard entwirft das Bild einer jungen Indianerin, die als Grenzgänger zwischen Natur und Zivilisation agiert. Der Roman nimmt die Lebensfäden vieler Personen auf, die sich zu einer Art Gemeinschaft zusammenfinden. Minard gelingt das seltene Kunststück, mit feiner Leichtigkeit zu erzählen und doch den mythischen Gehalt in ihre Prosa einzubringen, der sich dort entwickelt, wo die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation noch nicht gezogen ist.
Dass jemand einen rechtsfreien Raum betritt, gehört zu den Grundmotiven des Western. Hier können Wunder geschehen und Bestialitäten, ihre Unberechenbarkeit macht diese Welt so spannend, jeder der Romane eröffnet einen Blick in die Brunnenschächte der menschlichen Seele. Grausamkeit und Einsamkeit prägen auch die Gestalt von Sheriff Russell Strawl, der den Tod seiner Frau verschuldet hat und nun gegen sich und die Welt wütet. Strawl versucht einen monströsen Killer zu stellen und gerät während seiner Jagd selbst unter Verdacht. „Einsame Tiere“ nennt Bruce Holbert seinen Roman und meint damit die Menschen. Auch hier begegnet man als Leser einer Fülle von Bildern, deren Realismus eine faszinierende Sinnlichkeit innewohnt. Jeder dieser drei großartigen Romane zeigt auf seine Weise, wie die von zivilisatorischer Enge geprägten Charaktere in der Weite der Landschaft zerbrechen.
John Williams: „Butcher's Crossing“ | Dt. von Bernhard Robben | dtv | 366 S. | 21,90 €
Céline Minard: „Mit heiler Haut“ | Dt. von Nathalie Mälzer | Matthes & Seitz Berlin | 302 S. | 22,90 €
Bruce Holbert: „Einsame Tiere“ | Dt. von Peter Torberg | Liebeskind | 304 S. | 19,80 €
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