Gleich zwei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit dem Schicksal französischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Jacques Tardi hat sich schon öfter mit dem Ersten Weltkrieg auseinander gesetzt. Nun verfolgt er im ersten von zwei Teilen von „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“ das Schicksal seines Vaters im Zweiten Weltkrieg. Der jugendliche Tardi ist in der Geschichte omnipräsent, stets im Dialog mit seinem Vater. Die detaillierten Beschreibungen orientieren sich an in den 80er Jahren vom Vater verfassten Notizen, die gleichsam das Schicksal zehntausender Kriegsgefangener spiegeln (Edition Moderne). So wie das von Roger, Florent Sillorays Großvater. „Auf den Spuren Rogers“ stützt sich auf die Aufzeichnungen seines Opas während des Krieges. Silloray reist nicht mit durch die Vergangenheit wie Tardi, bereist aber in einer Parallelmontage in der Gegenwart die Orte des Geschehens (avant-verlag). Zeitgeschichte ist auch „Das Schweigen unserer Freunde“. Mark Long, Jim Demonakos und Nate Powell erzählen von den Rassenunruhen im Süden der USA im Jahr 1968 – und von der Freundschaft zweier Familien. Die eine ist weiß, die andere schwarz, und weder die Schwarzen noch die Weißen sehen das gerne. Die Geschichte ist schwungvoll erzählt und transportiert die nervöse, von Rassismus geprägte Anspannung in Houston (Ehapa).
Die Verfilmung von „Blau ist eine warme Farbe“ läuft im Dezember in den Kinos, die deutsche Ausgabe von Julie Marohs Liebesdrama um zwei junge Frauen erscheint zeitgleich auf deutsch. Im Gegensatz zum Film erzählt Maroh im Rückblick, in der Gegenwart ist die eine der beiden Protagonistinnen bereits tot. Das erfährt man gleich auf der ersten Seite, und es verstärkt die Tragik der gefühlvollen Coming of Age-Romanze (Splitter). „Entführt“ basiert auf der Geschichte der Studentin Melina, die in Lima in einem Koffer entführt wurde. Hernán Migoya und Joan Marín rekapitulieren die Ereignisse Mittels Zeugenaussagen und Polizeiberichten. Auch wenn soziale Momente einfließen, bleibt „Entführt“ vor allem ein Genrestück mit Charakterfiguren (Panini).
Kerasoët & Hubert sind bekannt für ihre unschuldigen Figuren in einer bösen Welt. Nach „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ steht auch in „Schönheit“ eine junge Frau im Mittelpunkt. Morue ist nicht gerade eine Schönheit, doch als sie sich eben das von einer Fee wünschen kann, ist sie von da an ein Traum für die Männerwelt. Die jagd ihr bald wie wild geworden nach und kurz darauf ziehen ihretwegen Länder in den Krieg. „Schönheit“ ist ein 150seitiger, großformatiger Epos in klaren Farbzeichnungen, über niedere Instinkte aller Art (Reprodukt). „Sandburg“ von Frederik Peeters und Pierre Oscar Lévy ist eine fantastische Novelle im Sinne von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe. Eine Gruppe Urlauber entdeckt eine Frauenleiche am Strand. In der Zwangsgemeinschaft verdächtigt man sich gegenseitig. Zudem halten sie unerklärliche Kräfte am Ort, und schon bald stellen sie merkwürdige Veränderungen an sich fest. Nicht nur gruselig, sondern rührt auch an existentiellen Erfahrungen (Reprodukt). Mit hohem Gruselfaktor kennt sich auch Thomas Ott aus. „Dark Country“ ist ein Comicszenario, das zuerst verfilmt wurde, bevor Ott den Auftrag für den Comic bekam. Den Film hat er nie gesehen, seine üblicherweise wortlosen Zeichnungen auf Schabkarton müssen den Vergleich aber nicht scheuen. Filmisch wirkt Otts Noir-Horror um eine tödliche Hochzeitsnacht allemal (Edition Moderne).
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