Schockiert stehen wir vor der Kaltblütigkeit der islamistischen Terroristen, die in Paris Konzertbesucher massakrieren. Wir reagieren fassungslos auf die Nachrichten von Steinigungen oder Ermordungen von Kindern oder alten Frauen, die im Namen des IS begangen werden. Frieden und Gewaltlosigkeit verstehen wir als den Normalzustand unseres Zusammenlebens, Gewalt erscheint uns als eine Perversion. Mit den Morden in Paris wurde einmal mehr deutlich, dass uns noch während das Blut der Getöteten trocknet, nur die eine Frage interessiert: „Warum?“ Eine Frage, die uns auch die Nazis nie wirklich beantworten konnten, wenn man sie nach dem Grund für ihr Handeln befragte. Aber wir ertragen es nicht, keine Erklärung zu bekommen. Deshalb ist es ein Skandal, wenn der Historiker Jörg Baberowski sagt: „Die Suche nach dem Ursprung der Gewalt ist vergeblich.“
„Nicht die Gewalt ist das Rätsel, sondern dass wir uns über sie wundern“ meint Baberowski. Der Berliner hatte in seinem Buch „Verbrannte Erde“ die Gewaltgeschichte der Sowjetunion rekonstruiert, jetzt legt er unter dem Titel „Räume der Gewalt“ eine gleichfalls brillante Analyse des Gewaltphänomens vor. Für Baberowski ist die Bestie im Menschen immer präsent, deshalb kann sie auch durch den dünnen Firnis der Ethik jederzeit leicht aktiviert werden. Die Räume müssen gegeben sein, und die entstehen dort, wo man dem anderen das Menschsein abspricht, wenn sich das Töten dann noch in der Gruppe vollzieht, möglichst so, dass man dem Opfer nicht in die Augen sehen muss, scheint alles möglich. Nationalsozialismus und Stalinismus haben es vorgemacht.
Jörg Baberowski schaut in die Vergangenheit und stellt fest, dass es Gewalt immer gab, nicht nur vereinzelt, sondern auch in Pogromen und Massakern an Gefangenen. Mit dem Blick auf Norbert Elias bemerkt er, dass die Allgegenwart von Mord, Verstümmelung oder Folter eingedämmt wurde, als man mit veränderten Handels- Wirtschaftsbedingungen erkannte, dass sich das Töten nicht rechnete. Mit einem ethischen Fortschritt scheint diese Entwicklung wenig zu tun zu haben. Relative Sicherheit für den Einzelnen stellte sich erst mit der Moderne ein. Deren Fundament war die Aufklärung, aber gerade in der Moderne steigen die Zahlen der Gewaltopfer in ein Ausmaß, das innerhalb der Menschheitsgeschichte ohne Vergleich ist. Folgt man Baberowski, dann wären diese Völkermorde auch zu jeder anderen Zeit denkbar gewesen, allein in der Moderne besaß man die Möglichkeiten, sie zu realisieren.
Baberowskis engagiert geschriebener Essay streift alle moralischen und weltanschaulichen Illusionen vom friedliebenden Zusammenleben ab. Ja, gegen die Friedensapostel scheint sein provokanter Ton gerichtet zu sein. Ein verhaltener Zorn klingt aus den Argumentationen, die mit Verve vorgetragen werden, und die davon ausgehen, dass Gewalt als ein Teil der menschlichen Konstitution zu denken ist. Daraus leitet sich aber keine Entlastung der Täter ab. Der Verweis auf die sozialen Verhältnisse als Brutstätte der Gewalt, wie es jetzt in der Diskussion um die Integrationspolitik in Frankreich geschieht, wäre völlig verfehlt. Einen anderen Menschen zu töten, hat nichts mit Armut und sozialer Benachteiligung zu tun. Diskriminierte werden nicht automatisch zu Mördern.
Was kann helfen? Ein demokratischer Staat mit Gesetzen, an die sich alle halten müssen, damit Vertrauen entsteht und dessen Institutionen dem Bürger stets einsichtig bleiben. Andererseits beginnt der Horror in dem Moment, indem der Staat in die Hände politischer Verbrecher fällt. Wir wissen, was dann geschieht.
Jörg Baberowski: Räume der Gewalt | S. Fischer Verlag | 266 S. | 19,99 €
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