Es gibt Bücher, die vergisst man nie. Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ ist so ein Buch. Das mag ebenso an der eigenwilligen Struktur dieses Romans liegen, der in Episoden erzählt ist, wie an seinem sehnsuchtsvollen Ton und den lebensvollen Bildern, mit denen diese unvergleichliche Prosa aufwartet. Der Roman erschien 1919, erntete Verrisse, wurde als unzüchtiges Machwerk verdammt und entwickelte sich unter Amerikas Schriftstellern zu einem Kultbuch. Alle sind sie auf irgendeine Weise von ihm beeinflusst, ein Philip Roth nicht weniger als John Updike, Thornton Wilder, Norman Mailer, Truman Capote, Raymond Carver oder Henry Miller. Ernst Hemingways Werk ist fast nicht denkbar ohne Andersons Kleinstadt-Panorama.
In 24 Kapitel entwirft Anderson kurze Charakterporträts von den Bewohnern des Ortes im Mittleren Westen der USA. Vom Hotelier bis zum Arzt, der Lehrerin oder dem Gepäckträger zieht eine Prozession von Gestalten durch den Ort, den wir mit jeder Figur aus einem anderen Winkel kennenlernen. Einzig der junge George Willard taucht in fast jedem Kapitel auf. Er möchte Journalist werden und will wie fast alle Bewohner Winesburgs der Klaustrophobie des provinziellen Lebens in die Großstadt entkommen. Anderson taucht den Ort in das warme Licht des Nachmittags, in dem eine Sanftmut und Schwerfälligkeit enthalten ist, die von der erregenden Sehnsucht nach der Liebe und ihren körperlichen Lockungen erzählt und zugleich seelische Abgründe drohend erahnen lässt. Anderson hat mehr als diesen einen Roman geschrieben, auch in seinen Erzählungen und kurzen Romanen blitzt seine sprachliche Brillanz auf, aber keines seiner Werke besitzt eine so kompakte, durchgängige Intensität.
In Deutschland konnte man mit der Editionsgeschichte des Romans bisher nicht glücklich werden. Das hat sich nun geändert, denn es sind gleich zwei neue Übersetzungen erschienen. Welche ist besser? Beide sind wundervoll, obwohl sie ganz unterschiedliche Akzente setzten. Für Manesse liefert der erfahrene Eike Schönfeld eine schlanke und vor allem elegante Fassung, die den Sound amerikanischer Short Stories bietet und dabei doch das pointierte poetische Bild zu liefern vermag. Köstlich, wenn sich etwa der alternde Doktor Reefy an seine verstorbene Frau beim Blick eines Apfelbaums erinnert. Denn wie sie gehört auch er zu den wenigen, die „die Süße der verwachsenen Äpfel“ kennen. Zudem enthält der Band einen Essay, in dem Daniel Kehlmann den Roman klug in das Panorama der Amerikanischen Literatur einordnet.
Mirko Bonné zeigt sich in seiner Übertragung für Schöffling anders gelagerte Ambitionen. Seine Sätze sind eckiger, voller Nischen und nachgelieferter Informationen. Sie ist dabei kompletter, präsentiert Anderson als einen Autor, der sich stilistischer Zitate und sprachlicher Experimente bedient. Sein Text lebt von der Liebe zum Detail, die auch im abschließenden Essay zum Ausdruck kommt, in dem der Autor Mirko Bonné noch einmal in die Welt des Autors Sherwood Anderson eindringt. Beide Übersetzungen entfalten einen je eigenen Zauber, der diesem Meisterwerk innewohnt. Andersons Roman besitzt jedoch eine solche Dichte an Bildern, Geräuschen und menschlicher Erfahrung, dass man die kurzen Kapitel im Wechsel beider Übertragungen lesen kann und sich jedes Mal wieder überrascht findet, von der Vielfalt an Zwischentönen, die in den Charakteren dieses skurrilen Kleinstadt-Personals enthalten sind und die „Winesburg, Ohio“ letztlich zu einem Ort der Weltliteratur machten.
Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio. Deutsch von Eike Schönfeld. Manesse Verlag, 302 S., 21,95 €
Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio. Deutsch von Mirko Bonné. Schöffling & Co, 312 S., 16 Abb. 22,95 €
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