Eine „Re-Industrialisierung“ des Kontinents will die EU-Kommission bis 2020 vollziehen. Günther Oettinger tönt gar, dass nun endlich Schluss sei mit dem „Streicheln der Eisbären“. Ob dieser Appell dem Ruhrgebiet noch dienen mag, wieder Staubschicht statt Grasnarbe? In dem von Wilfried Kaute herausgegebenen Foto-Band „Koks und Cola – Das Ruhrgebiet der 1950er Jahre“ kann man sehen, wie eine Staublunge aussieht. Den Dreck sollen halt immer die anderen fressen. Aber kann Dreck auch eine nostalgische Dimension gewinnen? Sieht man die Arbeiten der zwölf Fotografen, die Kaute für seinen opulenten Bildband ausgesucht hat, dann ging es im rußigen Herzen Westdeutschlands nach dem großen Krieg doch sehr vital zu. Es ist der freundliche Blick auf die harten Männer, die Tauben in ihren Händen halten, auf die Frauen an der Waschschüssel, die sich am Sonntag im Badeanzug am Ufer der Emscher sonnen. Kegeln, Musik, Schnaps und Fußball, das war das Leben, wenn man während der Woche unter Tage schuftete.
Dreck reinigt den Magen und poliert die Herzen. Es ist eine Freude, die Aufnahmen zu betrachten. Hier findet man etwas anderes als Schönheit, ein Stück Realität, das nicht kalt, sondern liebevoll eine Brücke zu jener nahen Vergangenheit schlägt, aus der wir kommen. Das Ruhr-Museum hat sie archiviert.
Weniger anekdotisch, schmuckloser, härter und beiläufiger sind die Fotografien von Barbara Klemm, die das essayistische Kompendium von Andreas Rossmann begleiten. Der Titel zu seiner über mehr als zwanzig Jahre entstandenen Sammlung mit Reportagen setzt die Metamorphose des Ruhrgebietes treffend ins Bild: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“. Das Abenteuer beginnt dort, wo dieses megalomane Gebilde – der Ruhrpott – in seine einzelnen Teile zergliedert wird. Bei Rossmann bekommt man Texte, die einen neugierig auf die urbane Porträtgalerie von Bochum bis Waltrop machen. Rossmann zeichnet kurz ihre historischen Hintergründe nach und charakterisiert sie über ihre architektonischen Preziosen, so erhalten Dortmund, Gelsenkirchen, Hagen, Herne oder Recklinghausen greifbare Kontur. Rossmann beschreibt ausgiebig die Zechen, Kinos, Parks, Kioske und Theater. Danach will man mit eigenen Augen schauen, wie sich die Verwandlungen vollziehen. Derweil buddelt er schon einmal mit kompakter Recherche und dem analytischen Instrumentarium des Kritikers die Gebrauchsspuren des Alltags frei, so dass eine Schatzkarte moderner Architektur ausgefaltet wird, die in Deutschland nicht ihres Gleichen findet.
Gerade weil das Ruhrgebiet keine Metropole geworden ist, verfängt sich der Blick auf dieses Gebilde, das die Funktion seiner Entstehung verloren hat, immer wieder in den Spuren seiner Vergangenheit. Die Versuche, sich neu zu erfinden, bleiben mit Zweifel behaftet, aber Rossmann kann sich für die Intention, eine Zukunft für die Region zu entwerfen, begeistern. Er verklärt nicht, sondern hört auf die Sprache der Menschen am Straßenrand und die tückischen Formulierungen der Politik. Ein Buch, das man noch oft hervorholt, auch deshalb, weil sich die Architektur so besonders gut dazu eignet, Zugänge in dieses urbane Rhizom zu finden. Wenn wir so detailverliebt zur Erkundung unserer jüngsten Vergangenheit eingeladen werden, darf sich Neugierde gerne mit nostalgischer Sehnsucht mischen.
Koks und Cola – Das Ruhrgebiet der 1950er Jahre, hrsg. v. Wilfried Kaute I Emons Verlag I 320 S., 39,95 Euro
Andreas Rossmann: Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Photographien Barbara Klemm I Verlag der Buchhandlung Walther König I 264 S., 14,80 Euro
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