Eigentlich kann ich auf diese Diskussion gut verzichten. Aber man kommt um sie ja nicht herum. Zumal sich die Schlagzahl, mit der das Thema „deutsche Identität“ auf den Tisch kommt, zunehmend erhöht. In allen Varianten. Vorgestern erst im Zusammenhang mit dem „neuen deutschen Film“: Alles nur geklaut. Nichts Eigenes. Hier ’ne Prise skandinavische Lakonie. Da ’ne Portion französische Melancholie. Natürlich darf die Ethno-Würze nicht fehlen. Und ganz wichtig, egal ob Action, Comedy oder Drama: das Fleisch, in Form eines US-amerikanischen Hamburgers (sic!). Ja und? Nichts, ja und!, krieg ich jedes Mal zu hören. Siehst du nicht, wie uns die intellektuelle deutsche Kollektivschuld den Zugang zu einer eigenen Identität verbaut?! Spätestens in diesem Moment stellen sich mir die Nackenhaare zu Berge. Seh’ ich. Aber ist das nicht eine einmalige Chance? Wozu eine kollektive Identität? Die „erzwungene“ Offenheit gegenüber anderen Kulturen ist unser geistiger Reichtum. Wie wär's mit einem sozialen Individualismus? Was praktiziert die Kunst – sofern sie sich nicht unter dem sicheren Deckmantel irgendwelcher Manifeste verschanzt – anderes? Der Künstler: ein Individuum in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Seine Protagonisten: exemplarische Alter Egos in einer deskriptiven Wirklichkeit. Das Werk: in Inhalt und Stil so subjektiv wie die Wahrnehmung und Gedankenwelt seines Schöpfers. Da verbietet sich eine nivellierende Kategorisierung doch von selbst.
Das fängt schon bei einem Autor wie Helmut Krausser an: Keiner seiner literarischen Cocktails aus erlesenen Wissenszutaten und hochprozentiger Schnoddrigkeit gleicht dem anderen. Diesmal pflügt er mit zwei Brüdern und einer halbjüdischen Prostituierten als „Nicht ganz schlechte Menschen“ (DuMont) durch die deutschen/westeuropäischen Irrungen und Wirrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Leider entpuppt sich dieses Gebräu als alkoholgeschwängerter „Schwermatrose“. Zuviel Geschichte, zu wenig Einzelschicksal. Da schmeckt man nicht mal mehr den Unterschied zwischen weißem und braunem Rum raus. Ganz anders: der plakative Kontrast in Sibylle Bergs neuem Roman, mit dem sie ihren so garstigen wie tiefgründigen Aberwitz auf die Spitze treibt. Ihr glockenheller Stil bildet dabei das himmlische Geleit für die bitterböse Leidensgeschichte eines Helden von geradezu messianisch-pikaresker Kraft. Erschütternd unerschütterlich prallen sämtliche Niederträchtigkeiten an dem geschlechtlich nicht definierbaren, „dafür“ aber durch und durch guten Menschenkind ab – „Vielen Dank für das Leben“ (Hanser). Wieder anders: Albert Ostermaiers „Liebende“ (Suhrkamp), die nicht nur den Leser mit ihrer soghaften Prosa in den Bann schlägt. Die faltige Nymphe beherrscht sämtliche Spielarten der Liebe, stürzt ihre becircten Opfer inklusive des ermittelnden Kommissars in mythisch-surreal-traumatische Gefühlswelten, aus denen kein Entrinnen gibt. Ein grandioses Vexierspiel, in dem der Romancier, Lyriker und Dramatiker sämtliche Gattungen in einer genialischen Melange verschmelzen lässt. Anders anders: Schon Wolf Haas’ Brenner-Krimis verlangen nach einer eigenen Untergattung. Noch mehr gilt das für seine Ausflüge in die „freie Literatur“. Die „Verteidigung der Missionarsstellung“ (HoCa) ist purer Jazz, mal bluesig-einfühlsam, dann wieder leidenschaftlich-verspielt, voll des hintergründigen Witzes und einer „typologischen Freiheit“, wie man sie so nur von B.S. Johnson kannte. Eine so romantische wie sarkastische Verweigerung und zugleich Suche nach der eigenen Identität, bei der der vermeintlich deutsch-indianische Protagonist sich sämtlichen Pandemien der Neuzeit ausgesetzt sieht. Und: Was sind Pandemien anderes als Massenhysterien, die dem der Sehnsucht nach kollektiver Identität innewohnenden Sicherheitsbedürfnis entspringen? Ich kann drauf verzichten. Diskussion beendet?
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