Lars Gustafsson ist tot. Mit 79 Jahren starb der Schwede, dessen Biografie und Werk eng mit Deutschland verbunden waren. Gustaffson lebte in den 60er Jahren in Berlin, war ein intimer Beobachter der Studentenbewegung und zählte zum inneren Kreis der literarischen Szene Westdeutschlands. Später unterrichtete er in Austin, an der University of Texas. Seine Lyrik und vor allem seine Romane eroberten sich in Deutschland vor und nach der Jahrtausendwende eine wachsende Leserschaft. Mit dem „Tod eines Bienenzüchters“ setzte diese Erfolgsgeschichte ein. Aber auch Romane wie „Die Sache mit dem Hund“ oder „Frau Sorgedahls schöne weiße Arme“ zeigten ihn als einen Erzähler, der sich in der Welt des bürgerlichen Mittelstands auskannte und realistisch zu erzählen verstand, wobei seine Romane stets um die Urthemen der Literatur kreisten: Das Sterben und die Erotik. Welchen wunderbaren Erzähler wir mit ihm verloren haben, demonstriert gerade wieder der soeben bei Hanser erschienene Roman „Doktor Wassers Rezept“.
Ein Roman über das Leben in Zwischenräumen. Sein Protagonist wächst in einfachen Verhältnissen in Schweden auf, arbeitet in einer Reifenwerkstatt und als Fensterputzer. Aber schon in dieser Jugend bleibt er seinem Umfeld fremd. Das Milieu seiner Herkunft legt sich nicht selbstverständlich wie ein sozialer Mantel um ihn. Dann entdeckt er eines Tages in der Kurve einer Landstraße, die im Wald verläuft, die Leiche eines Motorradfahrers. Er nimmt dessen Papiere an sich und lebt bald als Dr. Kurth Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Arzt. Damit seine fehlende Kompetenz in der medizinischen Praxis nicht auffällt, konzentriert er sich auf den Bereich der neurologischen Schlafforschung. Er verwandelt sich in einen Akademiker, kommt allerdings auch in diesem Leben nie so recht an, bleibt zwischen diversen Identitäten stecken.
Diese Wurzellosigkeit macht Kurth Wasser jedoch attraktiv für die Frauen: Er wird ein Gewinner, ein Verführer, der sich in die anderen einfühlen kann, sein eigenes Wesen jedoch im Nebel verschwinden lässt. Gustafsson liefert uns wundervolle Liebes- oder besser Verführungsszenen, indem er mit Zeitlupe und mikroskopischer Beobachtung arbeitet. Erotik ist Sex mit Bedeutung, deshalb stellt sich immer die Frage, was wollte sie mit dieser Geste, diesem Wort oder der Tatsache bezwecken, dass sie gerade heute diesen BH aus sündhaft teurem Material trägt? So raffiniert der Sex jedoch sein mag, aus ihm entwickelt sich keine Dauer. Gustafssons Erzähler schaut auf sein Leben zurück und verschachtelt seine Chronik, denn in bestimmten Momenten hätte dieses Leben auch eine andere Richtung nehmen können. Eine Überlegung, die sich jeder irgendwann stellt, denn wir alle bleiben letztlich Erfinder unseres eigenen Lebens, sonst könnten wir es gar nicht ertragen. Zwischen Schicksal und Hochstapelei entwickelt sich Kurth Wassers Karriere, und Gustafsson zeigt uns, dass dieses Spiel mit den Tatsachen seinen Reiz besitzt. Noch einmal blitzt das große Talent des Schweden auf, der im realistischen Erzählen die sinnliche Seite der Beziehungswelt zu entfalteten wusste und zugleich die Tiefe menschlichen Schicksals mit Humor zu erahnen verstand.
Lars Gustafsson: Doktor Wassers Rezept | A. d. Schwedischen v. Verena Reichel | Carl Hanser Verlag | 144 S. | 17,90 €
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