Wenn wir einen Menschen, der uns wichtig war, verloren haben, dann kann ein Foto von ihm unschätzbaren Wert annehmen. Aber der Blick auf ein fotografisches Porträt birgt auch Gefahren in sich. Wenn wir das Bild öfter anschauen, stellt sich irgendwann für unsere Erinnerung die Frage, ob wir uns noch an die Person erinnern oder an das Foto? Ist das Vergessen ein Segen oder ein Fluch? Für den niederländischen Psychologen und Gedächtnisforscher Douwe Draaisma gibt es darauf eine klare Antwort: Es ist ein Fluch, weil unser Erinnerungsvermögen mit dem Älterwerden an Kapazität verliert und gerade die Erinnerung an geliebte Menschen zunehmend verschwinden. Aber sein „Buch des Vergessens“ rückt unsere Schusseligkeit auch in ein neues, ermutigendes Licht.
Wenn wir etwa jeden Klick am Computer nicht sofort wieder vergessen würden, hätten wir kein besseres Gedächtnis, sondern mit einer zunehmenden Verwirrung zu kämpfen. Erinnern und Vergessen verlaufen auch nicht konträr, „in Wirklichkeit gehört das Vergessen zur Erinnerung wie Hefe zum Teig“, erklärt Draaisma. Denn wir erinnern uns nur deshalb an das „erste Mal“, weil wir viele andere Male vergessen haben. Ein Segen des Vergessens kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir viele der frühen Kindheitserlebnisse löschen. Denn die sind zumeist mit negativen Gefühlen wie Angst behaftet, die uns in ihrer Summe zu ziemlich eingeschüchterten Wesen heranreifen ließen.
Den Gesichtern widmet der Niederländer besonders viel Aufmerksamkeit. So fällt es uns schwer, das Gesicht unserer Eltern, Lebenspartner oder Kinder so zu erinnern, wie es vor zwei, vier oder sechs Jahren ausgesehen hat. Die Fotografie ist dabei auch keine wirklich tröstende Hilfe, da sie sich vor die schwindenden Erinnerungsfetzen schiebt und so die Auslöschung auf subtile Weise noch beschleunigt.
Draaismas Kompendium ist gut mit Erkenntnissen gefüllt, wenn die auch keinen abschließenden Charakter besitzen, Raum für neues Wissen eröffnet sich im Bereich der Neurologie ja derzeit mit jedem Monat, der ins Land geht. Aus wechselnden Perspektiven nimmt der Niederländer das Phänomen unter die Lupe. Er fragt nach den Verlusten, die uns das Vergessen bereitet, nach seinem Zweck, nach dem Vergessen, das eigentlich ein Verdrängen ist und nach dem Versuch, zu vergessen. Ein wichtiger Aspekt der Traumaforschung. Eine Kunst des Vergessen hat sich die Menschheit seit der Antike gewünscht, aber sie ließ sich nicht herstellen. Was man vergessen will, das bleibt eben besonders hartnäckig in der Erinnerung haften.
Das Schönste an Douwe Draaismas Buch ist, dass es Lust auf das Leben macht, auf die Beobachtung unserer wundersam funktionierenden Wahrnehmung, der Sinnlichkeit, die der Wahrnehmung Bedeutung verleiht. Manchmal könnte sich Draaisma ein wenig kürzer fassen, aber die Tatsache, dass man sich in seinem Streifzug durch die Welten von Erinnerung und Vergessen gerne verliert, bezeugen auch eine Qualität seines Erzähltemperaments. Wenn er über das Verschwinden der Träume, die ersten Erinnerungen, die Idee vom absoluten Gedächtnis oder dem unbewussten Einsatz von Plagiaten schreibt, dann erzählt er Geschichte. Darin begegnen wir dann etwa George Harrison, Elias Canetti, Immanuel Kant, Jules Verne oder zahlreichen Schicksalen, Anekdoten und Erinnerungen von Menschen, die zum Bestandteil der Forschung geworden sind. Ein Buch, das nicht alleine die Neugierde auf Draaismas andere Bücher weckt, wie zum Beispiel „Die Heimwehfabrik“ - die erklärt, wie das Gedächtnis funktioniert - sondern das auch tief in die Welt der Literatur führt, die sich mit den Phänomenen des Vergessens mindestens so begeistert auseinandersetzt, wie die Neurologie.
Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern. Deutsch von Verena Kiefer. Galiani Berlin. 352 S., 19,99 €
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