Köln zählt sicher zu den interessanteren Großstädten Deutschlands, aber schön wirkt die Stadt erst nach acht bis zehn Gläsern Kölsch. Das ist aber nicht immer so gewesen. Jene Kölner, die diese Stadt noch aus der Zeit vor dem Krieg kannten, schwärmen von ihrer Schönheit. Auch ein kritischer Geist, wie Heinrich Böll, dem nichts verhasster war, als blinde Heimatliebe, erinnerte sich voller Wehmut an die Höfe und die prächtigen Fassaden der Vorkriegszeit. Aber wie sah diese Stadt aus? Das möchte man doch zu gerne wissen. Köln hat seit der Entdeckung der Fotografie immer wieder großartige Fotografen angezogen, die jedoch selten die scheinbar banale Realität des Alltags für bildwürdig erachteten. Aber wie sah die Stadt in ihrem Alltagskleid aus?
Auf ein jahrelanges Rechercheunternehmen haben Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer eingelassen, um noch unveröffentlichte Fotografien aufzuspüren. Fündig wurden sie in Archiven, die weit verstreut in Europa liegen, von Paris und London bis nach Skandinavien sind sie immer wieder neuem, verheißungsvollem Material auf der Spur geblieben. Entstanden ist daraus ein wuchtiges Kompendium im Greven Verlag, das den betont schmucklosen Titel „Köln vor dem Krieg“ trägt und Aufnahmen jener sechs Jahrzehnte zwischen 1880 und 1940 zeigt, die bis heute prägend für Köln blieben.
Keine Deutsche Stadt vermochte sich in dieser Zeit so fulminant zu entwickeln wie die ehemalige Freie Reichsstadt, die nach den Napoleonischen Kriegen Preußen zugeschlagen wurde. Die Kölner haben die Preußen nicht gemocht und Preußen hat Köln nicht gemocht. Keine wichtige Institution erhielt die Rheinmetropole von den Hohenzollern. Dabei entpuppte sich die Domstadt als die wirtschaftliche Lokomotive des Preußischen Staates. Köln verfünfzigfachte sein Stadtgebiet, während die Bevölkerung von 1880 bis 1914 um mehr als 300 Prozent zunahm. Es entstanden neue Brücken, ein Flughafen, die Messe, die modernsten Sportanlagen Deutschlands, die größte Oper in Deutschland und die bedeutendste Ausstellung Moderner Kunst des 20. Jahrhunderts. Das Buch gibt eine Vorstellung vom Reichtum, vom Lärm der Modernisierung und von der Vitalität einer Stadt, die viele Gesichter besaß. Während sich Frankfurt am Main zur gleichen Zeit noch wie eine idyllische Kleinstadt des 19. Jahrhunderts ausnahm, streckt Köln seine Fühler in alle Richtungen aus. Verkehr, Handel, Industrie und Kultur werden bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten von einem Boom erfasst, dann setzt eine Stagnation ein. Diese Unruhe, dieser Taumel der Entwicklung wird wunderbar in den Fotografien dokumentiert. Alles ist in Bewegung, mit den Kaufhäusern entstehen Paläste der neuen Warenwelt, großzügige Cafés und Restaurant eröffnen. Nachts sind die Straßen hell erleuchtet von den Neonreklamen. Man baut Eisenbahnbrücken und die Zeppeline legen an. Die Ringe entwickeln sich mit ihren Villen, es gibt Aufnahmen vom Karneval und den unzähligen Amüsements, die man sich großzügig gönnte, zugleich gibt es aber auch bittere Armut in den Vorstädten.
Der Band enthält informative, gut geschriebene Texte von Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer zur Mentalität und historischen Entwicklung der Stadt. Zusätzlich wurden Textfragmente berühmter Zeitzeugen eingestreut. Dort landet man Volltreffer mit einer knappen, punktgenauen Charakterbeschreibung der Stadt etwa durch Joseph Roth. Andererseits verschenkt man mit einem unglücklich ausgesuchten Text von Irmgard Keun, die mit „Gilgi – eine von uns“ einen Bestseller und den atmosphärisch interessantesten Roman der Zwischenkriegszeit über Köln schrieb, die Chance zu einem intimen Einblick in das Lebensgefühl der Zeit. Egal, man kommt nie zu einem Ende mit diesem Buch, auf das die Kölner schon lange gewartet haben. Jetzt ist es da, wir werden es in Zukunft noch unzählige Male zur Hand nehmen, um zu schauen, wie es damals dort zuging, wo wir heute leben.
Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer: Köln vor dem Krieg. Leben / Kultur/ Stadt 1880 – 1940. Greven Verlag, 384 S., 49,90 €
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