Schon im Zug befällt mich ein tranceartiger Zustand. Hab ich auf dem Bahnsteig noch fantasiert, wer sich wohl in welcher Funktion ebenfalls gen Buchmesse aufmacht, versinke ich, unmittelbar nachdem ich Platz genommen habe, in unreflektiertem Sein. Ich lasse mich treiben. Mittreiben. In den Sonderbussen steht außer Frage, wer wohin will. Endlose Reihen voller Bücherwände warten. Dazwischen ein Strom, bedächtig mäandernd. Mittendrin ich. In Selbstauflösung. Ab und zu bleibt ein Mensch wie ein Ast an der Uferböschung hängen. Termine, Dates, wie sie all die anderen zu haben scheinen: undenkbar. Cover, Poster, Menschen und Gesichter vermischen sich zu einem Film, der sich parallel zu mir abspult – bis er mich plötzlich nach draußen spuckt. Licht, Tageslicht. Ein zweites Erwachen, bei Krakauer und Bier. Und dann tauchen sie aus der Erinnerung auf: Bücher, wild durcheinander, gelesen aber unverarbeitet, die sich auf der Treppe in meinem Büro stapeln, hier und jetzt erfolgreich gegen die Flut der Neuerscheinungen und das Vergessen ankämpfen:
Javier Cercas: „Outlaws“ [Fischer]: die Ballade vom Aufstieg und Fall eines von der Gesellschaft idealisierten Kleinkriminellen, von der Jugend bis zum Abgesang. Aus der Sicht eines Außenseiters vom bessergestellten Ufer, der an der Seite des Gangleaders (und seiner Braut) selber erst Gestalt annahm und dem es selbst nach Jahrzehnten noch entsprechend schwerfällt, sich von seiner Heldenverehrung frei zu strampeln.
Norbert Niemann: „Die Einzigen“ [Berlin]: die so unprätentiöse wie präzise Aufarbeitung vom Willen zur Kunst und dem Wunsch nach Erfolg – oder ist es doch‚nur‘, wie in der Liebe, die Sehnsucht „gehört“ zu werden? Harry ist wie gebannt, als er seine ehemalige Bandkollegin wiedertrifft und im Sog ihres Talents, ihrer Leidenschaft und ihrer Ausstrahlung mit seinem aufgeräumten Leben bricht.
Eoin Colfer: „Hinterher ist man immer tot“ [List]: Der „Artemis Fowl“-Autor kann auch anders. In herrlich trockener Süffisanz [Yep, das geht tatsächlich!] schickt er seinen Helden statt in den wohlverdienten Gangster-Ruhestand auf einen irrwitzigen Parforceritt durch die Halbwelt seiner Vergangenheit. Grotesk, gaga, kurzweilig. Voller durchgeknallter Wendungen und köstlicher Pointen.Aber ich steh’ auch auf „Tom & Jerry“…
Lard Buurman: „Africa Junctions. Capturing the City.“ [Hatje Cantz]: …Und wer auf „Tom & Jerry“ steht, liebt irgendwie auch Afrika. Allein das lebenswütige, informelle Improvisationstalent, das uns gehemmten Europäern mittlerweile so gänzlich abgeht. Im Gegensatz dazu, was wir für Errungenschaften halten – und mit denen wir in andersartigen Kulturen das Elend geradezu inszenieren. Speziell in den Städten. Ein kakophonischer Clash, der sich in diesem Fotobildband fulminant widerspiegelt.
Und Jasmin Ramadans „Kapitalismus und Hautkrankheiten“ [Tropen]: Ein Titel, der in seiner bissigen Ironie nicht zu viel verspricht. Grandios gemein, wie sich das verkappte Innenleben der ach-so-freien-und-begnadeten Kuglers in unterschiedlichsten Ausdrucksformen auf der Oberfläche ihres Grenzorgans abzeichnet, sie dazu zwingt, sich Schicht für Schicht unter Schweiß und Tränen bis zum Kern ihrer eigenen Zwiebel vorzuarbeiten. Allein für diese Erinnerung hat sich der Trip nach Frankfurt gelohnt.
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