Alle Jahre wieder im Bücherherbst: Die Blätter fallen von den Ästen und auf der Frankfurter Buchmesse sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Darum an dieser Stelle ein paar Appetizer querbeet aus den aktuellen Verlagsprogrammen, die richtig Lust aufs Lesen und Schmökern machen. Aber bitte ebenfalls nur häppchenweise goutieren, sonst hat man nach diesen mit einer Prise „Gastland Neuseeland“ gewürzten 3.151 Seiten das gleiche Völlegefühl wie nach einem Gang durch die bis oben hin mit Büchern vollgestopften Regalreihen auf Deutschlands größter Literaturveranstaltung:
1) Katherine Mansfield „Sämtliche Erzählungen“ (Diogenes): Die Short Stories der mit 34 Jahren viel zu früh verstorbenen Neuseeländerin sind ein echter Meilenstein der Weltliteratur. Präzise und einfühlsam taucht sie in ihre Figuren ein, um nicht selten schmerzhafte, aber immer erhellende Einsichten in das Innenleben ihrer Protagonisten zu gewähren. Die melancholischen, bisweilen liebevoll-tragikomischen Miniaturen im Schuber sind das perfekte Betthupferl, um Geschichte für Geschichte Tag für Tag zu rekapitulieren.
2) Kiran Nagarkar „Die Statisten“ (A1): Man muss Bollywood-Filme nicht mögen. Die unzähligen Tanz- und Singeinlagen können tatsächlich ganz schön nerven, genauso wie die schrille Komik. Bringt man das grelle Gebräu jedoch ins Buchformat, wird daraus ein locker-leichtes Lesevergnügen, das eine exotische und zugleich doch vertraute Welt aus Träumen und Schäumen offenlegt; in diesem rasanten, amüsanten und doch immer wieder nachdenklich stimmenden Fall die Film- und Musikszene Bombays aus den 60er und 70er Jahren.
3) Alex Adams „White Horse“ (Piper): Schon der Auftakt der Fantasy-Seuchen-Trilogie entfaltet geradezu apokalyptischen Thrill, als aus einem merkwürdigen Glasgefäß die moderne Pest „White Horse“ entweicht, in kürzester Zeit unzählige Menschen dahinrafft und sich die schwangere Zoe aufmacht, um das Geheimnis zu lüften beziehungsweise ihren Freund wiederzufinden, der plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist. Ein düsterer, neoromantischer Fiebertraum, für den der neuseeländische Autor bereits mit den ganz Großen der Szene verglichen wurde.
4) Kevin Wilson „Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführung“ (Luchterhand): Manchmal braucht man den brachialen Klamauk einfach, um die in der alltäglichen Tretmühle beinahe verkümmerten Lachmuskeln wieder zu stärken. Was Annie und Buster in ihrer Kindheit und Jugend als ungewollte Protagonisten der familiären Performance-Happenings ihrer Eltern in aller Öffentlichkeit ertragen mussten, kann einem schon einen Lattenschuss versetzen. Wenn man sich aber mehr oder minder erfolgreich endlich davon befreit hat und plötzlich als Erwachsener doch wieder mittendrin in diesem Wahnsinn befindet, droht der endgültige Wahnsinn.
5) Manotti & DOA „Die ehrenwerte Gesellschaft“ (Assoziation A): Gerade bei den subversiven Politthrillern finden sich immer wieder kongeniale Autorenduos, die vierhändig die ganze Klaviatur des Genres beherrschen. So auch das gemischte französische Doppel, das einem mit diesem hintergründigen Noir über die üblen Machenschaften der herrschenden Kaste(n) immer wieder die Zornesröte ins Gesicht treibt. Unweigerlich will man die Faust recken und sich dem autonomen Widerstand anschließen, um diese Ego-Fuscher endlich in die Schranken zu weisen.
6) Chad Harbach „Die Kunst des Feldspiels“ (Dumont): Das Debüt des Amerikaners war nicht von ungefähr der Überraschungserfolg in den USA. Dabei ist der Aufhänger Baseball nur ein kleiner Kunstgriff. Der eigentliche Sog dieses Romans entsteht vielmehr durch die lässige Verknüpfung von fünf ganz menschlichen Schicksalen, die in dem fatalen Fehlwurf eines vermeintlich fehlerfreien Megatalents kulminieren. Plötzlich sind sie da: die Selbstzweifel und stets verdrängten Ängste, kann sich keiner mehr in seine einst so komfortablen Scheinwelten flüchten.
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