„Seit 16 Jahren sitze ich hier fest.“ Man hört Abbas Khider gerne zu, wenn er lebhaft und gestikulierend von seiner Flucht aus dem Irak erzählt, wie auch bei seiner Lesung im Kölner VHS Forum. Obwohl er eigentlich zum Studieren nach Schweden wollte, fand er im Jahr 2000 Asyl in Deutschland, weil er von der Polizei erfasst wurde, die ihm mitteilte, dass er nun in kein anderes Land mehr reisen dürfe. Erlebnisse wie diese verarbeitet Khider in seinen Romanen, die alle von Flucht und Vertreibung handeln, wie auch sein neues Werk „Ohrfeige“. Der Protagonist Karim bindet seine Sachbearbeiterin Frau Schulz an einen Stuhl und klebt ihr den Mund zu, damit sie ihm endlich einmal zuhört. Karim erzählt ihr von seinen Erlebnissen in Deutschland, die von Problemen mit den Behörden, der Polizei und dem kalten, bayrischen Wetter gekennzeichnet sind.
Von Kultur-Redakteur Hubert Spiegel (FAZ) nach den Motiven seiner Hauptfigur befragt, gibt Khider zunächst zu bedenken, dass die Gründe für Flucht vielfältiger sein können, als man denken mag. Denn in der breiten Öffentlichkeit gebe es oft nur zwei Sorten von Flüchtlingen: Politische und Wirtschaftsflüchtlinge. Sein Protagonist aber flieht aus einem ganz anderen, viel absurderen Grund: Karim hat als schon als Jugendlicher Brüste bekommen. Kurz vor seiner Einberufung zum Militärdienst flieht er aus dem Irak, denn „als junger Mann mit Brüsten, mit Soldaten eingesperrt sein, die schon ewig keine Frau mehr gesehen haben, das geht doch nicht“, erklärt Khider und hat damit die Lacher des Publikums auf seiner Seite. Eigentlich möchte Karim nicht nach Deutschland, sondern nach Finnland, um sich dort einer Schönheitsoperation zu unterziehen und seine Brüste entfernen zu lassen. Spätestens an dieser Stelle fällt auf, dass „Ohrfeige“ ein Roman ist, der mit den bekannten Mustern der sogenannten „Flüchtlingsliteratur“ bricht.
Doch so sehr sich Abbas Khider bemüht, gängigen Klischees aus dem Weg zu gehen, in gewisser Weise bedient er manchmal genau diese. Zum Beispiel wenn Karim sich über das kalte deutsche Wetter aufregt, „das Geschlechtsteile verschwinden lässt“. Oder wenn er nach dem 11. September an jeder Ecke für einen „schwarzhaarigen Terroristen“ gehalten wird. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass der Autor aller Komik zum Trotz häufig aus persönlichen Erfahrungen schöpft. Dabei gelingt ihm eine Gratwanderung zwischen skurriler Satire und bitterem Ernst, wie sich auch im anschließenden Gespräch mit Hubert Spiegel herausstellt. Denn Khider kennt die Ängste von Vertriebenen aus erster Hand, er weiß, wie es sich anfühlt, weder im Herkunfts-, noch im Ankunftsland geduldet zu werden. Nachdem an diesem Abend viel gelacht wurde, lässt der Autor die Zuschauer mit einer ernsten Frage zurück: Wie ist ein normales Leben möglich, zwischen Integrationsdruck und der ständigen Angst davor, abgeschoben zu werden?
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